Serie: 200 Jahre Darwin (20):Der Fisch in uns

Der Mensch ist seinen Ahnen aus dem Wasser ähnlicher, als ihm guttut - und leidet darum an Rücken und Leiste. Denn für viele seiner Aktivitäten ist er einfach nicht gebaut.

Katrin Blawat

Die Medizinstudenten im Seziersaal der Universität von Chicago sollten zum ersten Mal eine Leiche aufschneiden. Entsprechend angespannt standen sie da. Auch für den Kursleiter Neil Shubin war es eine Premiere. Er hatte wenig Erfahrung im Aufschneiden menschlicher Körper - als Paläontologe kannte er sich mit versteinerten Fischknochen aus.

Serie: 200 Jahre Darwin (20): Entscheidender Schritt beim Übergang vom Wasser- zum Landleben: das Tiktaalik.

Entscheidender Schritt beim Übergang vom Wasser- zum Landleben: das Tiktaalik.

(Foto: Foto: dpa)

Die medizinische Fakultät hatte dringend einen Dozenten gesucht, deshalb erklärte jetzt Shubin nervösen Studenten den Aufbau des Arms. Mitten im Vortrag fiel ihm auf, dass er eine Stunde zuvor in einer anderen Vorlesung fast das Gleiche erzählt hatte, über Flossen. "Das ist der Fisch in uns!", rief er. Die Studenten lachten.

Seither sieht der Paläontologe seine für einen Medizinerkurs ungewöhnliche Ausbildung nicht mehr als Nachteil an. "Fische sind ein wunderbares Mittel, unsere eigene Anatomie zu verstehen", sagt er. Der Mensch, auch wenn er mit Aktien handelt, Marathon läuft und Klingeltöne fürs Handy erfindet, trägt noch mehr von seinen im Wasser lebenden Ahnen in sich, als man ihm auf den ersten Blick ansieht.

Die Evolution hat sozusagen mit dem Vorhandenen improvisiert, als sie den Menschen schuf; der verdankt dem Flickwerk der vergangenen Millionen Jahre nun etliche seiner Zivilisationsleiden. Shubin sagt dazu: "Physisch sind wir Menschen noch immer Fische, wenn auch stark modifizierte. Jedes unserer Körperteile erinnert daran, dass wir von Lebewesen abstammen, die vor 385 Millionen Jahren im Wasser gelebt haben."

Der Fisch im Menschen zeigt sich zum Beispiel in den Gliedmaßen. Als Shubin im Seziersaal deren charakteristischen Aufbau erklärte, ahnte er noch nicht, dass er ein Jahr später im Norden Kanadas ein Fischfossil ausgraben würde. Dessen Flosse hatte bereits die gleichen Merkmale wie der Arm: ein großer Knochen, dann zwei etwas dünnere, viele Gelenkknöchelchen und schließlich fünf Finger- oder Zehenknochen.

Tiktaalik, das steht in der Inuit-Sprache für "großer Süßwasserfisch", brachte seinen Entdecker Shubin vor fünf Jahren auf die Titelseite großer Zeitungen. Es war vor 375 Millionen Jahren mit seinem ein Meter langen Körper das erste Lebewesen, das nicht ausschließlich im Wasser lebte.

Wie ein Fisch besaß es Schuppen und Kiemen, doch es trug seine Augen oben in dem platten, langgestreckten Kopf wie ein Krokodil. Und vor allem: "Tiktaalik war der erste Fisch mit Handgelenk und Ellbogen", sagt Shubin. "Er hätte Liegestütze machen können."

Nahezu jedes Körperteil des Menschen können Forscher inzwischen einer Entwicklungsstufe der Evolution zuordnen, einem entfernten Ahnen. Zwar sind weder Tiktaalik noch andere Fische, weder Bakterien noch Seeanemonen direkte Vorfahren des Menschen. Und doch zeigt ein Blick in den Bauplan all dieser verschiedenen Lebewesen, wie der Mensch zu dem wurde, was er heute ist.

Anatomische Verwandtschaft mit Seeanemonen

So hat der Mensch noch den gleichen genetischen Code wie Einzeller. So entwickelte sich das Gebiss aus panzerähnlichen Platten, die im Kiefer der Vorfahren der heutigen Haie auftauchten. Ihnen verdanken wir auch den Steigbügel, eines der Gehörknöchelchen im Mittelohr; allerdings verband er bei den Ur-Haien noch Kiefer und Schädel.

Die beiden anderen Mittelohrknochen, Hammer und Amboss, halfen ursprünglich Reptilien beim Kauen. Erst als mit Tiktaalik die Ära der Landlebewesen begann, übernahmen die drei Knochen ihre neue Funktion, Schallwellen zu übertragen.

Auch in Seeanemonen haben Forscher inzwischen Vorläufer der menschlichen Anatomie entdeckt. Diese Wasserwesen sind eng mit den Quallen verwandt und bestehen aus einem Stamm, aus dem oben Tentakeln wachsen und in der Strömung driften.

Ein Tier aus dieser Gruppe bietet zum Beispiel dem Clownfisch Unterschlupf. Ihre Verwandtschaft mit dem Menschen ist verwunderlich, haben sich doch solche kreisrunden Tiere sehr früh von den Lebewesen getrennt, deren Körper eine Achsensymmetrie besitzt wie die Wirbeltiere.

Und doch besitzen schon die Seeanemonen die Gene, die beim Menschen die Entstehung der Körperachse und die Zuordnung von Mund und Anus steuern, wie vor einigen Jahren Mark Martindale von der Universität von Hawaii und John Finnerty von der Boston-University gezeigt haben. Als die Forscher Seeanemonen aufschnitten, konnten sie die Achsen sehen, obwohl diese für die Tiere keine Rolle spielen.

Erbe der Vorfahren aus dem Wasser

Das Wissen um die Herkunft der einzelnen Körperteile ist vor allem für jene interessant, die wissen wollen, "warum unser Organismus auf vorhersagbaren Wegen den Bach hinuntergeht", wie es Shubin formuliert. Nur selten verträgt sich das Erbe seiner im Wasser lebenden Vorfahren problemlos mit der Lebensweise des modernen Menschen.

"Das ist so, als ob man ein Ersatzteil aus einem VW-Käfer in ein Formel-1-Auto einbaut", sagt der Paläontologe. "Nichts passt richtig zusammen, und letztlich bestimmt der gebrauchte Motor aus dem Käfer, wie schnell das Rennauto fahren kann."

Wie sehr der Mensch seinen Ahnen aus dem Meer ähnelt, merkt er vor allem an seinen Gebrechen. Niemand ist dazu gebaut, den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen, Fußball zu spielen oder über die Alpen zu radeln. Probiere man es doch, sei es kein Wunder, dass der Körper protestiert, sagt Shubin: "Ein Fisch läuft auch nicht Marathon."

Die Last der Abstammung

Zwar hat sich der Mensch nach Millionen Jahren mit dem aufrechten Gang arrangiert, doch bei starken Belastungen macht seine Konstruktion Probleme. Wer auf zwei Beinen läuft, dessen Wirbelsäule muss permanent hohem Druck standhalten. Knie und Hüfte werden durch die Hebelwirkung der langen Beine stark beansprucht. Wären wir weniger Fisch und mehr Mensch, gäbe es Rücken- und Knieschmerzen nicht als Volksleiden.

Männer spüren die Last ihrer Abstammung auch in der Leiste. Im Embryo bilden sich die Keimdrüsen in der Nähe der Leber und wandern später in den Hodensack. Damit für diese Verschiebung Platz bleibt, gibt es im männlichen Unterleib einen Hohlraum zwischen Schambein und Bauchmuskulatur, durch den sich bei Anstrengung ein Stückchen Darm stülpt: ein Leistenbruch. Fische kennen dieses Leiden nicht, bei ihnen bleiben die Hoden zeitlebens im Bauchraum.

Besser abreißen und neu bauen?

Solche Leiden sind ein Dämpfer für alle, die den Menschen als Krone der Schöpfung sehen. "Der Mensch ist höchstens die Dornenkrone der Evolution", sagt der Wiener Biologe Franz Wuketits. In vielen Teilen gleicht der Körper einem alten Haus, das immer wieder renoviert, erweitert und den Wünschen neuer Besitzer angepasst wurde.

Irgendwann liegen dann sämtliche Leitungen so wild durcheinander, dass ein Elektriker erst die Geschichte des Gebäudes studieren muss, bevor er seine Funktionsweise versteht. Bei Immobilien drängt sich dann die Frage auf: Wäre abreißen und neu bauen nicht klüger?

Doch diese Logik ist der Evolution fremd. Sie arbeitet mit dem vorgefundenen Material und belohnt nur Veränderungen, die in Summe die Fähigkeit zur Fortpflanzung erhöhen. Die Schmerzen durch kaputte Knie und Leistenbrüche bei Menschen abzustellen, die ihre Kinder schon bekommen haben, erfüllt diese Anforderung nicht.

Deutlich wird dieses Prinzip auch beim Schluckauf. Er entsteht, wenn zwei Nerven gereizt werden, die die Muskeln im Rachen und Zwerchfell steuern. Man atmet dann unwillkürlich ruckartig ein, und dabei verschließt ein Gewebelappen im Rachen reflexartig die Luftröhre.

Kaulquappen können so Wasser über ihre Kiemen leiten, ohne dass es in die Lunge gerät. Babys schützt ein ähnlicher Mechanismus vor dem Verschlucken beim Trinken an der Brust. Erwachsene aber leiden unter dem Erbe. Papst Pius XII. quälte das Hicksen angeblich einmal mehrere Wochen lang.

Ausgleich durchs Gehirn

Allein auf die Macht der Evolution kann der Mensch also wohl kaum vertrauen, will er mit seinen Gebrechen zurechtkommen. Shubin sagt: "Wenn der Mensch etwas gelernt hat, dann, dass er mit seinem Körper allein nicht viel anfangen kann."

Es ist der Preis der vielen Fähigkeiten, dass der Mensch allerlei Hilfsmittel erfinden musste, um einigermaßen unbeschwert durchs Leben zu gehen. Dafür wiederum hat ihn die Evolution passend ausgestattet: mit einem extrem leistungsfähigen Gehirn, das Dinge wie winzige Hörgeräte und Joggingschuhe mit Gelkissen ersinnt.

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