Schweiz:Mit Gedankensteuerung zum Sieg

Hong Gi Kim of South Korea competes  during the Brain-Computer Interface Race at the Cybathlon Championships in Kloten

Ein Teilnehmer am "virtuellen Rennen mit Gedankensteuerung": Konzentration ist wichtig.

(Foto: REUTERS)

"Wettkampf der Prothesen" wird der Schweizer Cybathlon auch genannt. Er zeigt die Chancen jener Technik, die Behinderten den Alltag erleichtern soll. Aber auch ihre Grenzen.

Von Nik Walter und Amanda Arroyo

Völlig erschöpft fuhr Greg McClure ins Ziel. Das Publikum beim "Cybathlon" in der Swiss Arena in Kloten klatschte und johlte begeistert und trieb den Australier regelrecht über die Ziellinie. Nur um wenige Sekunden hatte er die Maximalzeit von acht Minuten beim Radrennen über 750 Meter für Querschnittsgelähmte unterboten. McClure reichte es letztlich zu Rang sieben in der Disziplin "Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation".

Die Platzierung spielte bei dem Wettkampf indes sowieso nur eine Nebenrolle. Die Zuschauer feuerten alle Teilnehmer des Cybathlons ähnlich frenetisch an. "Die Stimmung war besser als an manchen Paralympischen Spielen, die ich miterlebt habe", sagte René Will, Geschäftsführer der Dachorganisation des Schweizerischen Behindertensports. Am Cybathlon massen sich Menschen mit Behinderungen mit Hilfe von Hightech-Prothesen, geländegängigen Rollstühlen und anderen technischen Assistenzsystemen.

In der Tat: Den ganzen Tag über war die Euphorie im Publikum immer wieder förmlich spürbar. Etwa, als im Finale des Rennens der motorisierten, geländegängigen Rollstühle der Schweizer Florian Hauser am letzten und schwierigsten Hindernis - drei Treppenstufen rauf und wieder runter - die bis dahin führende Athletin überholte und die Ziellinie schließlich mit fünf Sekunden Vorsprung überquerte.

Oder, als sich beim Rennen der "Exoskelette" - das sind motorisierte Stützapparate dank derer Querschnittsgelähmte wieder gehen können - der Deutsche André van Rüschen und der Amerikaner Mark Clayton Daniel ein Herzschlagfinale lieferten. Der 43-jährige Deutsche, der nach einem Autounfall seit 13 Jahren querschnittsgelähmt ist, gewann schließlich ebenfalls mit nur wenigen Sekunden Vorsprung - und feierte entsprechend ausgelassen.

Der "Wettkampf der Prothesen", wie der Cybathlon etwas flapsig auch genannt wird, erlebte in der Swiss Arena seine Premiere. 66 Teams aus 25 Ländern nahmen an dem von der ETH Zürich organisierten Anlass teil.

Die Swiss Arena war zwar mit rund 4600 verkauften Tickets restlos ausverkauft, meist war sie auch gut gefüllt, freie Plätze gab es aber trotzdem jederzeit zuhauf. Das hatte wohl auch mit dem attraktiven Rahmenprogramm in den Gängen rund um die Arena zu tun. Da konnte man zum Beispiel in einer Ausstellung historische Prothesen aus Holz und Metall bewundern. An anderen Ständen durfte man selber ausprobieren, wie schwierig es ist, mit einer Handprothese Gegenstände aufzuheben oder einzig mit seinen Gedanken eine Spielfigur zu steuern. Die Idee: Die Besucher sollten am eigenen Leib erfahren , mit welchen alltäglichen Problemen sich Menschen mit Behinderungen herumschlagen müssen.

Die Idee für den Cybathlon entstand vor etwa vier Jahren. Robert Riener, Professor für Sensomotorische Systeme an der ETH Zürich, hatte sie, als er von einem Treppenlauf mit motorisierten Prothesen auf den Willis Tower in Chicago - einst das höchste Gebäude der Welt- las. Etwas Ähnliches könnten wir auch in der Schweiz machen, dachte er sich, in der Robotik-Entwicklung sei die Schweiz schließlich führend.

Es geht um die Alltagstauglichkeit

Cybathlon event in Zurich

Der Cybathlon testet auch die Alltagstauglichkeit der Prothesen: Eine Flasche zu öffnen gehört zu den Aufgaben der Teilnehmer.

(Foto: dpa)

Robert Riener sah den Wettkampf von Anfang an vor allem als Anstoß für sinnvolle technologische Innovationen. "Wir wollen mit dem Cybathlon die Entwicklung von Technologie fördern, die für Menschen mit Behinderungen im Alltag von Nutzen ist", sagte der Initiator des Cybathlon. "Es geht nicht darum, die komplexesten Geräte zu entwickeln, sondern die nützlichsten."

Dementsprechend war auch der Wettkampf konzipiert. Alltagstauglichkeit stand bei den sechs Disziplinen im Mittelpunkt. So mussten die Teilnehmer beim "Geschicklichkeitsparcours mit Armprothesen" ein Stück Brot abschneiden, eine Glühlampe einschrauben oder eine PET-Flasche öffnen. Beim "Parcours mit motorisierten Rollstühlen" hatten die Piloten (so heissen die Cybathlon-Athleten) die Aufgabe, über verschiedene Bodenwellen, einen Slalom um vier Stangen und zuletzt eine Treppe hoch und wieder runter zu fahren. Und beim "Hindernisparcours mit Beinprothesen" galt es unter anderem zwei Teller mit Gegenständen sicher über eine Treppe hinauf und hinunter zu balancieren.

Zwei Disziplinen fielen ein wenig aus dem Rahmen. Zum einen das "Virtuelle Rennen mit Gedankensteuerung", bei dem komplett gelähmte Piloten nur kraft ihrer Hirnströme einen Avatar durch ein speziell entwickeltes Computerspiel steuern mussten. Um zu reüssieren brauchte es dabei zwei Dinge: eine möglichst ausgefeilte Hirn-Computer-Schnittstelle (Brain Computer Interface, BCI) sowie ein Pilot, der seine Gedanken gut fokussieren konnte. Am besten gelang das dem Team Brain Tweakers von der ETH Lausanne, das gleich zwei Finalisten stellte. Einer von ihnen, der nach einem Fahrradunfall komplett gelähmte Numa Poujouly, 30, gewann denn auch das Finale.

Die zweite etwas spezielle Disziplin war das Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation. Dieser Wettstreit glich mehr einem klassischen Sportwettkampf, den man sich so auch bei den Paralympics vorstellen könnte. Es war jedenfalls eindrücklich, wie die Piloten mit Hilfe von FES-Prothesen, die über in die Muskeln implantierte oder auf der Haut angebrachte Elektroden ihre gelähmte Beinmuskulatur stimulierten, den 150 Meter langen Rundkurs durchfuhren. FES steht für: funktionelle elektrische Stimulation. Am schnellsten tat dies der 59-jährige Kalifornier Mark Muhn, der in liegender Position scheinbar mühelos seine Runden drehte.

Anders als bei den Paralympics waren den Teams bei der Entwicklung der Hilfsmittel keine Grenzen gesetzt. Dementsprechend breit war die Palette an Prothesen, Rollstühlen und Co. Dementsprechend unterschiedlich war aber auch die Qualität der eingesetzten Hilfsmittel. So musste zum Beispiel ein französischer Radfahrer das Rennen nach gutem Start aufgeben, weil ihm mehrmals die Kette rausgesprungen war.

Insgesamt zeigte sich, dass viele Hilfsmittel, etwa die Exoskelette, die FES-Prothesen oder auch geländegängige Rollstühle zwar ein großes Potenzial besitzen. Doch die am Cybathlon benutzten Prothesen und Geräte sind vielfach noch so klobig und ungelenk, dass sie sich für einen breiten Einsatz (noch) nicht aufdrängen.

"Wir wollten nicht nur aufzeigen, was heute technisch alles möglich ist, um den Alltag von ­Menschen mit Behinderungen zu unterstützen", sagt Initiator Robert Riener: "Wir wollten auch zeigen, was heute noch nicht möglich ist". Denn viele Menschen hätten unzutreffende ­Vorstellungen über Assistenz-Technologien. "Hollywood gaukelt uns da ein falsches Bild vor mit Figuren wie Terminator oder Iron Man."

Dieser Artikel erschien zuerst im Tages-Anzeiger vom 09.10.2016

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