Schlangen-Invasion:Die Nattern von Gran Canaria

Lesezeit: 4 min

Wer auch immer die Tiere auf die Kanaren-Insel gebracht hat: Eine aus Kalifornien stammende Schlangenart fühlt sich dort äußerst wohl. Einheimische Spezies leiden unter der invasiven Art.

Von Velten Arnold

Ah, da haben wir ja wieder eine!" José Miguel Sánchez Rivera packt in die zwischen Schilfrohr versteckte Falle und zieht die Beute heraus: eine braun-weiß gefärbte Schlange. Es ist eine Kalifornische Kettennatter, dieses Exemplar ist 107 Zentimeter lang. Eigentlich ist die Schlange in Kalifornien heimisch, Sánchez und seine Kollegen Cristian Rodríguez Vega und David Monzón Peñate sind allerdings auf der Kanareninsel Gran Canaria auf Schlangenjagd. Dort hat sich das Reptil in den vergangenen Jahren breit gemacht und richtet in der einheimischen Tierwelt beträchtlichen Schaden an. Vor allem die Gran-Canaria-Rieseneidechse und der Gestreifte Kanarenskink haben unter der Schlangeninvasion zu leiden. Um sie zu schützen, gehen Sánchez und sein kleiner Trupp in den Schluchten der Insel sechsmal die Woche auf Schlangenfang.

"Die erste Kalifornische Kettennatter wurde auf Gran Canaria im Jahr 1998 gesichtet", sagt der Biologe Ramón Gallo Barneto, der das Programm zum Schutz der einheimischen Arten leitet. Wahrscheinlich sind die ersten Schlangen jemandem entwischt der sie in einem Terrarium als Haustiere gehalten hat. "Die Nattern haben hier einen idealen Lebensraum vorgefunden", sagt Gallo. Eine karge, trockene Landschaft, ähnliche Temperaturen wie im Südwesten der USA, aber vor allem haben sie auf Gran Canaria keine natürlichen Feinde. "Es ist hier für sie, als hätten sie sich an einen gedeckten Festmahltisch gesetzt." Und so hat sich die Würgeschlange, die bis zu zwei Meter lang werden kann, für Menschen jedoch völlig ungefährlich ist, rasend schnell vermehrt.

Die Lieblingsspeise in ihrem neuen Siedlungsgebiet ist die Gran-Canaria-Rieseneidechse

Bis 2007, so Gallo, haben die kanarischen Umweltbehörden das Problem nicht ernst genommen. So konnten sich die Schlangen zunächst unbehelligt ausbreiten. Doch irgendwann waren die Nattern in einigen Schluchten im Nordosten der Insel bei Telde so häufig anzutreffen, dass die Anwohner Alarm schlugen. "Seitdem fangen wir die Schlangen und versuchen, die einheimischen Tierarten zu schützen", sagt Gallo. "Aber da die Kalifornische Kettennatter bisher an keinem anderen Ort der Welt als invasive Art in Erscheinung getreten ist, konnten wir auf keine Erfahrung zurückgreifen und mussten bei null anfangen." Im Kern geht es darum, die Schlangen einzufangen und zu töten. Dazu wurden bereits Hunde und Greifvögel eingesetzt, doch am effektivsten erwies sich das Aufstellen von Fallen. Die Europäische Union sah das Problem als so schwerwiegend an, dass sie die einheimischen Umweltschützer bei ihrem Kampf gegen den Eindringling von 2011 bis 2015 mit dem Programm "Lampropeltis" förderte, das seinen Namen der lateinischen Bezeichnung der Schlange verdankt: Lampropeltis californiae.

Die Lieblingsspeise der Kalifornischen Kettennatter in ihrem neuen Siedlungsgebiet ist die Gran-Canaria-Rieseneidechse, die - ohne Schwanz gemessen - bis zu 80 Zentimeter lang wird und die größte Rieseneidechse der Kanarischen Inseln ist. "Bei Zählungen in Gebieten, in die die Schlangen noch nicht vorgedrungen sind, finden wir 450 Rieseneidechsen pro Hektar Land" sagt Gallo, dort wo die Kettennatter sich verbreitet hat, sei es nur noch ein Zehntel. Diesen Befund bestätigt auch Cristian Rodríguez vom Schlangensuchtrupp, der Tag für Tag viele Kilometer durch die von den Nattern besiedelten Schluchten stapft, vorbei an unzähligen verfallenden Steinmauern längst aufgegebener Terrassenfelder. "In diesen Steinmauern verstecken sich die Biester besonders gerne. Ich habe hier schon lange keine Rieseneidechse mehr gesehen, die Schlangen haben sie ausgerottet."

Die Schlangen bedrohen jedoch nicht nur die Rieseneidechsen und den Gestreiften Kanarenskink, stellt Miguel Ángel Peña Estevez klar. Er ist Biologe am Cabildo von Gran Canaria, der Inselverwaltung. "Wenn die Rieseneidechse ausfällt, fehlt ein wichtiges Puzzleteil im ökologischen System, und alles gerät aus dem Gleichgewicht. Man muss sich das Ganze vorstellen wie ein komplettes Kartenspiel, aus dem nach und nach einzelne Karten herausgezogen werden." Die Eidechse verbreitet Samen typischer kanarischer Pflanzen und reguliert den Bestand einiger Insekten. Also werde es ohne die Eidechse mehr von diesen Insekten und weniger von diesen Pflanzen geben.

Für Miguel Ángel Cabrera Pérez, dem für das Programm verantwortlichen Biologen der Naturschutzbehörde der Kanarischen Inseln, ist die Invasion der Kalifornischen Kettennatter auf Gran Canaria derzeit von allen Problemen mit invasiven Arten der schwerwiegendste Fall. "Die Verbreitung der Schlangen ist zwar noch auf relativ kleine Gebiete begrenzt, aber wo sie auftreten, sind die Folgen insbesondere für die dort lebenden Reptilien dramatisch."

Bisher sind auf Gran Canaria vor allem drei Regionen von der Schlangeninvasion betroffen: ein gut 70 Quadratkilometer umfassendes Gebiet im Nordosten der Insel um Telde, Santa Brígida und Valsequillo, wo die Nattern zum ersten Mal gesichtet wurden, ein Gebiet im Nordwesten bei Galdar und ein Gebiet im Süden bei San Bartolomé de Tirajana. "Da die Schlangen sich nur in einem Umkreis von etwa 200 Metern bewegen, gehen wir davon aus, dass Menschen beteiligt sind, wenn die Nattern an einem deutlich weiter entfernten Ort auftauchen", erklärt Gallo. "Entweder mit Absicht, oder aus Versehen, wenn zum Beispiel eine Schlange im Fahrgestell eines Autos mitfährt."

Seit 2009 wurden 4932 Schlangen gefangen. "Ganz wichtig ist für uns die Sensibilisierung und Beteiligung der Anwohner," stellt der Biologe klar. "Sie sollen uns sofort informieren, wenn sie eine Schlange sehen." Dafür wurden eigens Telefonnummern eingerichtet und sogar eine App für Smartphones entwickelt.

Die Aktion hat Erfolg. "Im Juni dieses Jahres haben wir 661 Exemplare gefangen, 411 davon mithilfe von Anwohnern", sagt Gallo. Mehrmals im Jahr gibt es zudem Schlangensuchaktionen mit freiwilligen Helfern, inzwischen lassen die Mitarbeiter des Programms die Fallen von Schülern zusammenbauen, um sie für das Problem zu sensibilisieren.

Die Schlangenjäger suchen allerdings noch den idealen Köder, um die Nattern in die Fallen zu locken. In Zusammenarbeit mit Experten der Truman State University in Missouri fahnden die kanarischen Biologen nach einem geeigneten Pheromon, einem Signalstoff, der die Schlangen anlocken soll. An den Hotspots auf der Kanareninsel experimentieren sie mit unterschiedlichen Ködern in den Fallen. José Miguel Sánchez hebt die Deckel einiger Fallen hoch. In einer huscht eine Maus herum, in einer ruht ein Natternweibchen, in einer liegt Mäusekot, in einer anderen steht nur eine Schale Wasser. An diesem Tag sind die Fallen leer, aber im August werden die Fänge üblicherweise seltener, sagt Sánchez. "Unseren Rekord hatten wir im April, da haben wir an einem Tag 22 Schlangen gefangen."

Die drei Biologen sind sich einig, dass es sehr lange dauern wird, den Kampf gegen die Kalifornische Kettennatter auf Gran Canaria zu gewinnen. "Das langfristige Ziel wäre natürlich die Ausrottung, aber das ist sehr schwierig, weil die Schlangen die meiste Zeit ihres Lebens im Verborgenen verbringen und sich sehr stark vermehren", sagt Miguel Ángel Cabrera von der Naturschutzbehörde. "Im Moment ist das Wichtigste für uns, die Ausbreitung der Kalifornischen Kettennatter auf Gran Canaria zu begrenzen und aufzupassen, dass keine einzige Schlange auf eine der anderen Inseln gelangt." Dafür sorgen unter anderem José Miguel Sánchez und seine beiden Kollegen. Am nächsten Morgen werden sie wieder auf Schlangenjagd gehen.

© SZ vom 21.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: