Rückschaufehler:Selbstbetrug im Rückspiegel

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Nicht nur notorische Besserwisser reden sich ihre frühere Unwissenheit schön. Warum der Mensch im Nachhinein glaubt, vorher schon alles gewusst zu haben.

Von Georg Rüschemeyer

Wird Angela Merkel Kanzlerin? Schafft es 1860 München nächste Saison wieder in die erste Bundesliga? Wie wird die Führerscheinprüfung ausgehen? Fällt der DAX?

Im Rückblick glauben viele Menschen es ja "schon immer gewusst" zu haben. (Foto: Foto: dpa)

Über Ereignisse lässt sich trefflich spekulieren, solange ihr Ausgang noch im Dunkeln liegt. Eben das erscheint den meisten Menschen im Nachhinein aber nicht mehr so: Nicht nur notorische Besserwisser reden sich ihre frühere Unwissenheit schön. Im Rückblick glauben viele Menschen, "es ja schon immer gewusst" zu haben.

Rückschaufehler nennen Psychologen dieses Phänomen, über das sie sich jüngst auf einem internationalen Workshop an der Universität Leipzig austauschten. Neues zum Thema entdecken die Wissenschaftler immer noch. Dabei beschäftigen sie sich schon seit 30 Jahren mit dem verbreiteten Täuschungsmechanismus.

Hellseherische Fähigkeiten

Es war Baruch Fischhoff, der 1975 an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh den Rückschaufehler erstmals systematisch untersuchte. In einem Experiment gab er Testpersonen allerlei Informationen über einen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts in Nepal.

Damals kämpfte die britische Kolonialarmee gegen die einheimischen Gurkhas. Über den wahren Ausgang aber - ein Friedensvertrag begründete schließlich den Staat Nepal - sagte Fischhoff nur jedem vierten die Wahrheit. Den übrigen flunkerte er eine andere Entwicklung vor.

Anschließend sollten die Testpersonen angeben, für wie wahrscheinlich sie den Ausgang gehalten hatten, der ihnen später als richtig verkauft worden war. Tatsächlich gaben die meisten Versuchpersonen an, genau jenes Ende vorhergesehen zu haben.

Robustes Phänomen

"Diese verzerrte Erinnerung an die eigene Meinung ist ein sehr robustes Phänomen", sagt Hartmut Blank, Sozialpsychologe an der Universität Leipzig. "Es zeigt sich immer wieder und weitgehend unabhängig vom Persönlichkeitstyp."

So wollen viele Menschen das Platzen der New-Economy-Blase vor fünf Jahren für unvermeidlich gehalten haben - selbst solche, die dabei viel Geld verloren. "Andererseits bestehen Anlageberater, die ihren Kunden den falschen Fonds empfohlen haben, darauf, dass die Kursverluste unabsehbar waren", sagt Blank.

Fundament des Rückschaufehlers ist, dass es dem Menschen grundsätzlich schwer fällt, sich korrekt an frühere Geisteszustände zu erinnern. Schwummrige Erinnerungen aber lassen sich leicht beeinflussen - in der Regel zum eigenen Vorteil. Dabei hat der Rückschaufehler eine wichtige Funktion: "Er stabilisiert unser Selbstwertgefühl, wenn wir Geld verlieren oder eine Prüfung vermurksen", sagt Blanks Kollege Steffen Nestler.

Gut fürs Ego

In einer Studie, die demnächst veröffentlicht wird, haben die beiden Wissenschaftler die Einstellung der Leipziger Bürger zur Olympiabewerbung ihrer Stadt im vergangenen Jahr untersucht - direkt vor und nach der Absage durch das Internationale Olympische Komitee. Zwar konnten sich die meisten Leipziger noch recht gut daran erinnern, dass sie früher optimistisch gewesen waren.

Doch im Rückblick erschien ihnen der negative Ausgang als zwangsläufig. Schuld sei die geringe Größe Leipzigs gewesen. "Etwas als zwangsläufig anzusehen, ist bei frustrierenden Erfahrungen eine Quelle des Trostes", sagt Blank. "Wenn es sowieso unabänderlich war, muss man sich keine Vorwürfe machen."

Beim Rückschaufehler muss es aber nicht immer um Trost gehen. Die Erinnerungsverzerrung dient dem Ego sogar, wenn die Ereignisse einen Menschen gar nicht direkt betreffen: Wer halbwegs glaubhaft machen kann, "es" schon immer gewusst zu haben, gewinnt Vertrauen - und sei es auch nur das eigene.

Kompensation der eigenen Inkompetenz

Besonders deutlich wird das bei der Einstellung zu politischen Themen. So befragte Erik Hölzl von der Universität Wien ein halbes Jahr vor der Einführung des Euro 122 Österreicher, für wie wahrscheinlich sie wirtschaftliche Entwicklungen wie sinkende Zinsen oder steigenden Export hielten. Ein halbes Jahr nach der Währungsunion sollten sie sich an ihre früheren Antworten erinnern. Teilnehmer, die bei der zweiten Befragung keine weiteren Informationen über die tatsächlichen Entwicklungen erhielten, schätzten ihre alte Meinung weitgehend richtig ein.

Im Durchschnitt hatten sie bei der ersten Befragung auf einer zehnstufigen Skala Wahrscheinlichkeiten von 4,4 angegeben, bei der Nachfrage erreichten sie den Wert 4,5. Anders jene Teilnehmer, die erfuhren, wie sich Zinssätze und Ausfuhrzahlen wirklich entwickelt hatten. Sie glaubten, dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 5,2 vorhergesagt zu haben. Dabei hatte ihre Prognose nur bei 4,4 gelegen.

Aber auch wenn das Verdrängen der eigenen Inkompetenz die Psyche stabilisiert: Es birgt zweifelsohne Gefahren. So ist fraglich, wie viel die Klein-Anleger wirklich aus dem Zusammenbruch des Nemax-50 gelernt haben. Die verzerrte Erinnerung an die eigenen Unzulänglichkeiten führt auch dazu, dass Menschen die Probleme falsch einschätzen, die andere mit einer unbekannten Aufgabe haben.

Schwerwiegende Konsequenzen

Prüfer können sich häufig nicht in ihre Prüflinge hineinversetzen, weil sie vergessen haben, welche Schwierigkeiten sie selbst einmal mit Aufgaben hatten, als sie deren Lösung noch nicht kannten. Und Fluglotsen überschätzen den Überblick, den Piloten über die Geschehnisse im Luftraum haben.

Schwerwiegende Konsequenzen kann der Rückschaufehler bei juristischen Fragen haben. So kann es für einen Radiologen schwierig werden, wenn er verdächtigt wird, einen Tumor nicht früh genug entdeckt zu haben. Hinzugezogene Gutachter, die von der Erkrankung wissen, kommen nämlich oft zu dem Schluss, dass es auf den alten Röntgenbildern durchaus Hinweise auf den Krebs gab.

Vor Strafgerichten wird der Rückschaufehler berücksichtigt. Denn Augenzeugen tendieren bei einer Gegenüberstellung dazu, sich "ganz genau" an das Gesicht eines Angeklagten zu erinnern, selbst wenn sie den Täter nur in dunkler Nacht gesehen haben.

© SZ vom 19.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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