Rechtsmedizin in Not:Eine akademische Leiche

Da immer mehr Institute für Rechtsmedizin geschlossen werden, können auch immer weniger Leichen obduziert werden - und viele Gewalttaten bleiben unentdeckt.

Wiebke Rögener

In Krimis sind sie oft die Stars: Rechtsmediziner, die den entscheidenden Hinweis für eine Ermittlung liefern, oder diese selbst in die Hand nehmen.

Sektionssaal, ddp

Ein leerer Sektionssaal an der Universitätsklinik Köln. In Deutschland werden immer weniger Obduktionen durchgeführt.

(Foto: Foto: ddp)

Ob es der smarte Professor Boerne im Münster-Tatort ist, der wackere Quincy in der gleichnamigen US-Serie aus den 1970ern, oder die aktuellen Quotenbringer vom CSI- Team - ihr Wissen um Schusswunden, Gifte oder DNS-Spuren fasziniert das Publikum.

Im wahren Leben wird die Rechtsmedizin in Deutschland jedoch stiefmütterlich behandelt. Rechtsmediziner klagen, dass die Forschungspolitik ihr Fach ins Abseits drängt.

Etwa 1200 Fälle von Mord und Totschlag bleiben in Deutschland jedes Jahr unentdeckt, ergab eine Studie der Universität Münster schon vor Jahren. Die Statistik des Bundeskriminalamtes erfasst hingegen für 2008 nur 656 Tötungsdelikte.

Ein Großteil aller Kapitalverbrechen fällt offenbar niemals auf, dem Opfer steckt nur selten ein Messer in der Brust. Wurde es in seinem Bett mit einem Kissen erstickt und war zuvor kränklich, bescheinigt der Hausarzt oft ohne genaue Untersuchung einen natürlichen Tod.

Nur selten wird eine Obduktion angeordnet: Während man in Skandinavien 20 bis 30 Prozent aller Verstorbenen obduziert, sind es in Deutschland weniger als fünf Prozent.

Elf von 32 Lehrstühlen nicht besetzt

Auch eine große Zahl tödlicher Kindesmisshandlungen bleibt unerkannt, vermuten Fachleute, weil längst nicht jedes verstorbene Kind obduziert wird. Bei ärztlichen Behandlungsfehlern ist ebenfalls eine erhebliche Dunkelziffer anzunehmen.

Diese Situation könnte sich verschärfen: Rechtsmedizinische Institute werden geschlossen und Lehrstühle bleiben vakant, wie beispielsweise in Magdeburg und Tübingen, in Greifswald und in Dresden.

Insgesamt gingen seit 1993 elf von 32 Lehrstühlen für Rechtsmedizin an deutschen Universitäten verloren oder sind derzeit nicht besetzt. Zwar erklärten die Justizminister der Länder 2008 "mit Sorge", der Rückbau rechtsmedizinischer Institute widerspreche dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Verfolgung schwerer Straftaten.

Doch das seien nur Lippenbekenntnisse, kritisiert der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, Stefan Pollak, denn die Minister legten kein Veto gegen die Aufgabe von Standorten ein.

Auch sonst wird gespart. Die Rechtsmedizin der Universität Bonn soll zum Beispiel in diesem Jahr mit weniger als der Hälfte des früheren Etats auskommen, berichtet der Direktor des Instituts Burkhard Madea.

Von gut 1,7 Millionen Euro im Jahr 2007 seien die Mittel auf etwa 700.000 Euro gekürzt worden. Eine wesentliche Ursache der Misere sehen die Rechtsmediziner in einem neuen Verfahren, nach dem Universitätsetats verteilt werden, der "Leistungsorientierten Mittelvergabe".

"Kriminalität richtet sich nicht nach dem Kalender"

Nach dem Motto "Leistung muss sich lohnen" konkurrieren die Institute miteinander um Geld. Dabei zählen zum einen Drittmittel, die Forscher etwa von der Industrie oder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhalten; wer dabei erfolgreich ist, bekommt auch mehr aus dem Uni-Haushalt.

Zum anderen gelten wissenschaftliche Publikationen in internationalen Fachjournalen als Kriterium.

Diese Maßstäbe benachteiligen kleinere Fächer wie die Rechtsmedizin, kritisiert Pollak. Für sie gibt es naturgemäß weniger Drittmittel und auch weniger Zeitschriften und Leser. Viele rechtsmedizinische Forschungsergebnisse werden in deutschen Zeitschriften publiziert, oft in juristischen Fachblättern. So erreichen sie zwar ihre Zielgruppe am besten, bleiben aber für die Mittelvergabe unberücksichtigt.

"Durch die Orientierung auf 'Eliteuniversitäten' stehen die medizinischen Fakultäten unter großem Druck, vor allem die Forschungsrichtungen zu stärken, die gerade angesagt sind - etwa Neurowissenschaften, Herz-Kreislauf- Erkrankungen oder die genetische Grundlagenforschung", sagt Pollak.

Zwölf Stunden Arbeit bei 90 Messerstichen

Doch auch wenn Rechtsmedizin gerade nicht in Mode ist, sei sie für das Funktionieren unseres Rechtssystems unverzichtbar, sagt Burkhard Madea. Schon jetzt würden immer weniger Obduktionen angeordnet, weil gegen Jahresende weniger Geld zur Verfügung stehen wird.

Die Rechtssicherheit nähme also im Laufe des Jahres ab, "denn Kriminalität richtet sich nicht nach dem Kalender."

500 Euro beträgt die gesetzlich festlegte Gebühr, die die Justiz für eine Obduktion entrichtet. Schon für einen "normalen" Fall genüge das nicht, sagt Madea.

"Und wenn wir eine Leiche mit 90 Messerstichen haben, sind wir leicht zwölf Stunden damit beschäftigt."

So lange sein Institut mit einem ausreichenden Gesamtetat rechnen konnte, war das kein allzu großes Problem, sagt Madea: "Bisher gab es eine gewisse Querfinanzierung aus dem Bereich Forschung und Lehre, da die Obduktionen ja beispielsweise auch der Ausbildung von Studenten dienen."

Das sei jedoch nicht zulässig, erklärt ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Die Mittel für Forschung und Lehre dürften nicht für Arbeiten im Auftrag der Justizbehörden ausgegeben werden.

Die Ausgaben bleiben gleich, der Etat schrumpft

Im Übrigen: wie die Universitätsklinik Bonn die 92 Millionen Euro aufteile, die das Land ihr für 2010 zugewiesen hat, sei ihre Sache. Der Dekan der Bonner Medizinischen Fakultät, Thomas Klockgether, räumt ein, durch die neue Berechnung des Budgets von 2009 an habe sich beim Rechtsmedizinischen Institut "eine deutliche Diskrepanz zwischen den zugewiesenen Mitteln und den tatsächlich verausgabten Mitteln" ergeben.

Die Ausgaben blieben gleich, während der Etat des Instituts drastisch schrumpfte. Die Fakultät fordert nun vom Wissenschaftsministerium, Belange des öffentlichen Gesundheitswesens wie die Rechtsmedizin, zusätzlich zu finanzieren.

Pollak plädiert ebenfalls für solch eine Sockelfinanzierung. "Die Justiz arbeitet ja auch nicht kostendeckend", argumentiert er. Niemand erwarte, dass sich Gerichte aus Geldstrafen finanzieren oder die Strafvollzugsanstalten aus der Arbeit der Häftlinge.

"Es muss anerkannt werden, dass die Tätigkeit der Rechtsmedizin eine gesellschaftliche Aufgabe ist, für die ausreichend Geld bereitgestellt werden muss."

Allerdings sei der Wunsch, stets der Wahrheit auf den Grund zu gehen, offenbar wenig ausgeprägt. "Das Thema Rechtsmedizin ist kein Wahlkampfschlager", bemerkt Pollak.

"Wer hat schon Interesse daran, dass die Statistik mehr Tötungsdelikte oder mehr Drogentote ausweist."

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