Reaktoren ausgefallen:Notstand in der Nuklearmedizin

Den Ärzten gehen die radioaktiven Isotope aus, mit denen sie Tumore suchen und Rheuma behandeln. Zehntausende Termine mussten die Patienten bereits verschieben.

Birgit Herden

Wer in den kommenden Wochen einen Termin bei einem Nuklearmediziner hat, sollte besser nachfragen, ob es dabei bleibt. I

Reaktoren ausgefallen: Technetium-Szintigraphie der Halsregion bei einem Patienten mit Morbus Basedow.

Technetium-Szintigraphie der Halsregion bei einem Patienten mit Morbus Basedow.

(Foto: Foto: oh)

n ganz Europa werden derzeit die für Diagnosen und Behandlungen benötigten, schwach radioaktiven Substanzen knapp. Sie stammen aus speziellen Atomreaktoren, von denen es weltweit nur fünf gibt - drei von ihnen sind zurzeit außer Betrieb.

Die Substanzen haben eine so kurze Halbwertszeit, dass Ärzte sie nicht lagern können, sondern auf kontinuierlichen Nachschub angewiesen sind.

"Die Situation ist ernst, Zehntausende von Terminen mussten bereits verschoben werden", sagt Manfred Gaillard, Geschäftsführer des Berufsverbandes Deutscher Nuklearmediziner.

Die speziellen Reaktoren stehen in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Kanada und Südafrika; sie besitzen Vorrichtungen, um das Ausgangsmaterial für die Radionuklide im laufenden Betrieb in den Reaktor schieben und wieder herausnehmen zu können.

Die drei europäischen Anlagen sind derzeit ausgefallen. Wegen Wartungsarbeiten wurden die Kernkraftwerke in den Niederlanden und Frankreich planmäßig heruntergefahren, der Reaktor in Belgien liegt still, nachdem radioaktive Stoffe freigesetzt worden waren und Gemüse auf benachbarten Feldern verseucht wurde.

Dringende Behandlungen sind noch möglich

Noch können die Ärzte in Deutschland fast alle dringenden Behandlungen und Untersuchungen machen. "Wenn aber ein weiterer Reaktor ausfällt, bekommen wir gar kein Technetium mehr", warnt Andreas Bockisch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin. Dieses Präparat, Technetium-99m genannt, ist ein Isotop mit einer Halbwertszeit von nur sechs Stunden (das m steht für metastabil, weil sich der Kern beim Zerfall nicht weiter verändert).

Es wird bei etwa 80 Prozent aller Untersuchungen mit Radionukliden verwendet. Ärzte koppeln es an Pharmazeutika, damit es selektiv den Weg in bestimmte Organe des Körpers findet. Zerfällt das Technetium dort, kann ein Detektor die Strahlung aufzeichnen und ein Bild des Gewebes gewinnen. Mit dieser sogenannten Szintigraphie lassen sich vor und nach einer Bypass-Operation die durchbluteten Bereiche des Herzmuskels sichtbar machen. Andere Ärzte spüren damit Metastasen bei Krebspatienten auf.

Praxen und Krankenhäuser bekommen das Technetium in Form handlicher Apparate, in denen Molybdän-Atome zu dem metastabilem Technetium-99 zerfallen; es lässt sich dann mit einer Kochsalzlösung ausspülen. Das Molybdän wandelt sich mit einer Halbwertszeit von 66 Stunden um.

Die auch Technetium-Kühe genannten Generatoren halten etwa eine Woche, dann brauchen Nuklearmediziner Nachschub. Deutschland besitzt keinen eigenen Reaktor und erhält Technetium im Moment nur noch aus Südafrika. "Ansonsten gibt es weltweit keine weiteren Quellen, der Markt ist leergefegt", sagt Bockisch.

Notstand in der Nuklearmedizin

"Wir fordern seit langem, den Forschungsreaktor in Garching umzurüsten", klagt auch Gaillard, "doch das Genehmigungsverfahren zieht sich über Jahre hin." Der Notstand wird inzwischen vom Bundesgesundheitsministerium ernst genommen, vor kurzem gab es dort ein Krisengespräch.

Eine schnelle Lösung ist allerdings nicht möglich, der Engpass wird noch mindestens bis Ende Oktober anhalten. Weniger dringende Untersuchungen werden bis dahin verschoben. Alternativ weichen Ärzte auf die kostspieligere Positronen-Emissions-Spektroskopie aus - die dafür benötigten Nuklide werden in Deutschland hergestellt.

Nachschub aus dem Reaktor

Außer Technetium fehlen den Ärzten weitere Radioisotope. Die größte Sorge bereitet Bockisch Yttrium-90. Dieses Isotop erzeugt eine zerstörerische Strahlung, die aber nur wenige Millimeter durch Körpergewebe dringt.

Daher lassen sich damit Gewebetypen gezielt beseitigen und zum Beispiel entzündliche rheumatische Erkrankungen behandeln. In Gelenke gespritzt zerstört Yttrium-90 die oberen, entzündeten Schichten der Gelenkinnenhaut, ohne das gesunde Knorpelgewebe zu schädigen. Das mildert die Schmerzen und macht das Gelenk beweglicher.

"Vermutlich werden wir bald gar kein Yttrium mehr erhalten", so die Prognose von Bockisch. Hier gibt es keine Alternative. Bei der Behandlung von schmerzhafter Arthritis sei ein Aufschub für die Patienten zwar unangenehm. In manchen, selteneren Fällen benutzt man das Yttrium-90 aber auch, um gezielt bestimmte Tumore wie etwa Lymphome abzutöten. Die Behandlung kann der letzte Ausweg sein, wenn die Chemotherapie versagt hat. Dieser Ausweg könnte ab dieser Woche verwehrt sein.

Bislang hat ein Notfallplan die Versorgung in allen dringenden Fällen sichergestellt. Unter www.notfallplan.nuklearmedizin-life.de können sich Ärzte und Patienten informieren, welche Praxen und Kliniken noch Untersuchungen oder Behandlungen anbieten können.

"Die Patienten sollten auf keinen Fall aus falsch verstandener Solidarität auf den Arztbesuch verzichten", warnt Bockisch. Es nütze nichts, wenn in einigen Wochen um so mehr Termine anstünden. Die Entscheidung, welche Behandlung nötig ist, müsse der Arzt treffen.

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