Raumfahrt:Raumschiff mit Ecken und Kanten

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt startet eine ungewöhnliche Rakete, das auf die üblichen abgerundete Formen verzichtet. Das Gerät könnte die Grundlage für ein Mini-Shuttle sein, hoffen die Entwickler.

Alexander Stirn

John Turner jagt gern Dinge in die Luft. Teure Dinge, vor allem aber schnelle. Mehr als 100 Höhenforschungsraketen hat der 67-Jährige im Laufe seines Lebens schon gestartet - in Australien, Brasilien, Schweden. Doch das Geschoss, das an diesem Freitagabend auf einer Startrampe in Norwegen steht, lässt den Puls des erfahrenen Ingenieurs schneller schlagen. "Dieses Projekt ist das aufwendigste, das ich je gemacht habe", sagt der gebürtige Australier. "Ich bin sehr froh, wenn das Ding jetzt fliegt - wenn es erfolgreich fliegt."

Kantiges Raumfahrzeug absolviert erfolgreichen Testflug

Postkartenpanorama für den Countdown: Auf der norwegischen Insel Andøya befindet sich der nördlichste permanente Startplatz der Welt. Am vergangenen Freitag hob dort die Shefex 2 ab.

(Foto: dpa)

Das Ding heißt Shefex 2, ein Raumschiff mit Ecken und Kanten. Wo konventionelle Raumgleiter auf abgerundete Formen setzen, verzichtet Shefex - das Sharp Edge Flight Experiment des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) - auf solche Sperenzchen. Seine Entwickler haben stattdessen ebene Platten aneinandergeschraubt. So lange, bis eine kantige Spitze entstanden ist.

Billiger, sicherer und flexibler soll die Rückkehr aus dem Weltraum werden, so die Hoffnung der DLR-Ingenieure. Insgeheim träumen sie sogar von einem deutschen Mini-Shuttle. Eckig, wendig, unbemannt könnte der Raumgleiter Experimente in eine Umlaufbahn bringen, kontrolliert zurückfliegen und schließlich auf einem Flughafen landen. Damit es soweit kommt, muss John Turner sein Ding aber erst einmal ins All jagen.

Noch 58 Minuten bis zum Start. Der Countdown flimmert über zwei Röhrenfernseher, die an der Decke des norwegischen Kontrollzentrums hängen. Der Raum mit den rot-blauen Schlafzimmervorhängen ist klein, heiß, stickig. John Turner sitzt in der letzten Reihe in der Mitte. Noch lacht das Team. Es ist das Lachen vor dem Sturm.

"Schweineteuer in der Entwicklung und im Unterhalt"

Hendrik Weihs ist nicht zum Lachen zumute. Mit zusammengekniffenen Lippen lehnt der Ingenieur an der Rückwand des Kontrollzentrums. Weihs leitet die 16 Millionen Euro teure Shefex-Mission. Das pfeilförmige Raumschiff, das 600 Meter entfernt auf der Startrampe steht, ist sein Kind. Elf Jahre sind vergangenen, seit der Stuttgarter DLR-Forscher mit Kollegen das neuartige Wiedereintrittskonzept entwickelt hat - in München beim Bier, wie der 49-Jährige sagt.

Im Oktober 2005 startete Shefex 1. Der ungesteuerte Flugkörper pflügte 20 Sekunden lang mit sechsfacher Schallgeschwindigkeit durch die Luftschichten. Sein Nachfolger, an dem Weihs sechs Jahre gearbeitet hat, soll 50 Sekunden lang mit bis zu 12 000 Kilometern pro Stunde unterwegs sein - etwa zehnmal so schnell wie der Schall.

Ein heißer Ritt

Es wird ein heißer Ritt. "Durch die Reibung beim Wiedereintritt rechnen wir mit Temperaturen von über 2000 Grad Celsius - insbesondere an den scharfen Kanten", sagt Hendrik Weihs. Aus diesem Grund waren vorstehende Ecken bislang verpönt: Die russischen Sojus-Kapseln haben eine Glockenform und lassen ihren Hitzeschild kontrolliert abbrennen. Sie können dabei allerdings nicht gesteuert werden. Die Spaceshuttles hatten zwar Flügel, benötigten an ihrer Unterseite aber mehr als 25 000 individuell angefertigte Hitzekacheln. Jede hatte eine eigene Nummer und Form. "Das war schweineteuer in der Entwicklung und im Unterhalt", sagt Weihs.

Shefex-Start verschoben

Shefex 2 an der Abschussvorrichtung. Die Entwicklung der Rakete soll helfen, die Rückkehr aus dem Weltraum sicherer und flexibler zu machen.

(Foto: dpa)

Shefex soll es billiger machen, etwa um die Hälfte. Möglich wird das, weil der Hitzeschutz lediglich aus drei- und viereckigen Keramikkacheln besteht. Die Paneele können problemlos hergestellt und ersetzt werden. Durch die scharfen Kanten verbessern sich zudem die aerodynamischen Eigenschaften des Raumschiffs; es lässt sich bereits während des Wiedereintritts, bei vielfacher Schallgeschwindigkeit, steuern. Allerdings werden die Ecken dabei viel heißer, als derzeit erlaubt. "Zum Glück betrifft das nur einen winzigen Teil des Fahrzeugs", sagt Hendrik Weihs. "Dafür müssen wir Konzepte entwickeln, da müssen wir Gehirnschmalz reinstecken."

Ob die Ingenieure auf dem richtigen Weg sind, soll der heutige Flug zeigen. Neun unterschiedliche Thermalschutzsysteme sind an Bord. 160 wissenschaftliche Sensoren registrieren Temperaturen, Druck und Wärmefluss. Telemetriestationen in Norwegen und auf Spitzbergen sollen die Daten auffangen.

Noch 49 Minuten. Ratternd öffnet sich das Dach des Startgebäudes. In seinem Innern verbirgt sich ein Metallmast. Unter ihm hängt die knapp 13 Meter lange Shefex-Rakete. Langsam richtet sich der Turm auf - bis zu einem Winkel von 88 Grad. Die Startposition.

Drei, zwei, eins, Feuer. Totenstille

Kjell Bøen beobachtet die Szenerie von seinem Kontrollraum über dem Kabuff der Wissenschaftler. Der ehemalige Luftwaffensoldat leitet das Raketenprogramm der Andøya Rocket Range, wie das Startgelände heißt. Seit fast 50 Jahren werden hier, am Strand der norwegischen Insel Andøya, suborbitale Höhenforschungsraketen gestartet, bis zu 40 pro Jahr. "Wir sind der nördlichste permanente Startplatz der Welt", sagt Bøen.

Für John Turner und sein Team von der Mobilen Raketenbasis des DLR bedeutet das: Ihnen steht das gesamte Polarmeer rund um Spitzbergen als Zielgebiet zur Verfügung. Zehn Minuten soll Shefex unterwegs sein und dabei 800 Kilometer zurücklegen. Anschließend landet der Wiedereintrittskörper am Fallschirm auf der Wasseroberfläche, wo er aufgefischt werden kann. Nur die vielen Kreuzfahrtschiffe, zu Zeiten der Mitternachtssonne in der Region unterwegs, machen Stress. Ein abgesperrtes Seegebiet verträgt sich nicht mit Massentourismus.

Drei Minuten. Bei Shefex 1 musste der Countdown an diesem Punkt abgebrochen werden - weil ein Student in Richtung Startrampe lief. Er wollte fotografieren. Heute bleiben alle in Deckung. 60 Sekunden. Eine Computerstimme übernimmt den Countdown. "Jungs, toi, toi, toi, viel Glück", hallt es durch den Kontrollraum. Jemand schiebt ein "Jetzt wird's spannend" hinterher. Es klingt wie ein Seufzer.

Noch zehn Sekunden. Kjell Bøen klappt eine rote Schutzkappe nach oben und aktiviert die Startautomatik. Noch fünf Sekunden. John Turner klappt zwei Plexiglaskappen nach oben, drückt die darunter liegenden Knöpfe und macht die Nutzlast scharf.

Drei, zwei, eins, Feuer. Totenstille. Über seine Lesebrille schielt Turner auf das Fernsehbild der Startrampe. Die Rakete, sein Ding, setzt sich tatsächlich in Bewegung. Wenig später erreicht der Schall das Kontrollzentrum - ein dumpfes Grollen, das zu Gewitterdonner anschwillt. Shefex fliegt. Und wie: Nach zwölf Sekunden durchbricht die Rakete die Schallmauer, nach 55 Sekunden ist die erste Stufe planmäßig ausgebrannt. Nach 100 Sekunden gibt Turner die Koordinaten fürs Zielgebiet in den Computer.

"Die ist weg"

Nach 152 Sekunden zündet wie geplant die zweite Stufe. Kollektives Durchatmen. Nach 229 Sekunden fällt die Verkleidung des Wiedereintrittskörpers ab. "Die ist weg", ruft jemand. Kollektives Lachen, nach oben gereckte Daumen, erstes Schulterklopfen. "Jetzt kann nichts mehr passieren", entfährt es Hendrik Weihs. Er soll sich irren.

"430 Sekunden", verkündet die Computerstimme. Shefex passiert beim Rücksturz zur Erde die 100-Kilometer-Marke. Wiedereintritt. Showdown.

Gas ist an", meldet Turner. Hannah Böhrk schmunzelt. Die Ingenieurin vom Stuttgarter DLR-Institut für Bauweisen und Konstruktionsforschung steht hinter dem Raketenmann. Das Gas, reiner Stickstoff, ist wichtiger Teil ihres Experiments. Es soll durch eine poröse, fünf Millimeter dicke Hitzeschutzkachel strömen, Wärme abführen und sich zugleich wie ein kühlender Schutzfilm über die Oberfläche des Raumfahrzeugs legen. "Solch eine aktive Kühlung wurde bislang im Flug nicht getestet", sagt die 36-Jährige. Sollte sich das System bewähren, könnte es künftig an stark belasteten Stellen zum Einsatz kommen - an der Spitze und den Kanten.

Siebeneinhalb Minuten seit dem Start. Andreas Bierig, Ingenieur vom Braunschweiger Institut für Flugsystemtechnik, steht auf. Schüchtern steht er vor Turner. Als ihm niemand Aufmerksamkeit schenkt, sagt er: "John, Gas aus!" Böhrk schaut entsetzt, Turner verständnislos. "Das Gas für die Steuerdüsen ist noch an", sagt Bierig. Durchatmen bei Böhrk, ein Mausklick bei Turner.

Lässt sich das Raumschiff aus dem Polarmeer bergen?

Die automatische Lageregelung von Shefex, die ebenfalls mit Stickstoffgas betrieben wird, stört Bierigs Experiment. Mit Kollegen will der Aerodynamiker untersuchen, wie sich das kantige Raumschiff aktiv steuern lässt. Das Team hat dazu vier drehbare Stummelflügel montiert, fast so groß wie ein Backblech. Bei den immensen Geschwindigkeiten sollten Ausschläge von wenigen Grad reichen, um eine Steuerwirkung zu erzielen - in der Theorie. Jetzt müssen sich die Ideen im Flugversuch beweisen.

Der Autopilot hat kein leichtes Spiel: Die Dichte der Atmosphäre nimmt zwischen 100 und 20 Kilometern Höhe stark zu, die Wirksamkeit des Ruders ändert sich um den Faktor 10 000. Spontan müssen sich die Algorithmen an Bord darauf einstellen. "Das ist, wie wenn man mit dem Auto von einer vereisten auf eine enorm griffige Straße fährt - mit verbundenen Augen und ohne zu wissen, wann es passiert", sagt Bierig.

490 Sekunden nach dem Start verliert die Telemetrie in Andøya Shefex aus dem Blick. Das Raumschiff, noch 37 Kilometer hoch, verschwindet hinter dem Horizont. Die Arbeit im Kontrollraum ist so gut wie getan. Noch mehr Glückwünsche, Gelächter, noch mehr Umarmungen. Sie werden jäh unterbrochen.

Svalbard ist tot!", ruft jemand. Die Telemetriestation auf Spitzbergen empfängt keine Messdaten - ausgerechnet jetzt, in den dichten Schichten der Atmosphäre. Zwar speichert Shefex alle Werte auch an Bord. Um an die zu kommen, muss das Raumfahrzeug aber sicher landen und von einem Bergungsschiff gefunden werden. In den drei Meter hohen Wellen des Polarmeers ist das ein beinahe aussichtsloses Unterfangen.

Das Malheur von Svalbard schmerzt vor allem Aerodynamiker. In 20 bis 40 Kilometer Höhe spielen sich die interessanten Phänomene ab, hier kommt die Steuerung erst richtig zum Tragen. Die Erkenntnisse wären wichtig für die dritte Shefex-Mission, die für 2016 geplant ist. Dann soll ein kantiger Raumgleiter, äußerlich einer Mini-Version des erträumten Mini-Shuttles nachempfunden, 15 Minuten mit 20-facher Schallgeschwindigkeit durch die Atmosphäre düsen und Flugmanöver absolvieren - sofern die Daten von Shefex 2 das erlauben.

Trotz des späten Rückschlags überwiegt im Kontrollzentrum die Erleichterung, dass überhaupt Messwerte aufgenommen werden konnten. Glückshormone verdrängen Adrenalin. Auf dem Flur fallen sich Hendrik Weihs und Hannah Böhrk in die Arme. "Hey, schön haben wir das gemacht!" John Turner steht abseits. Der Mann, der seine erste Rakete vor 46 Jahren gestartet hat, wirkt müde aber befreit. Sechs Jahre lang lastete die Verantwortung für den Flug auf seinen Schultern. "Da kann man nie abschalten, jeden Abend denkt man an Probleme", sagt er. Jetzt steht Entspannung an. Im September wird Turner 68 Jahre alt. Irgendwann, sagt er schmunzelnd, muss man aufhören, immer nur Dinge in die Luft zu jagen.

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