Raumfahrt:Der Sputnik-Schock

Vor 50 Jahren funkte erstmals ein Satellit aus der Erdumlaufbahn - ein Triumph für die Sowjetunion. Ein Zeitzeuge berichtet in SZ Wissen über eine Sonde, die die Welt und sein Leben veränderte.

Victor McElheny

Als Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 auf seiner Trägerrakete abhob, um die Ionosphäre von oben auf zwei Funkfrequenzen zu untersuchen, wusste niemand in der Öffentlichkeit, dass dies nicht der erste Start einer solchen russischen Riesenrakete war. Es war der dritte. Nur wenige Monate zuvor hatte ein amerikanisches Spionageflugzeug bereits eine Trägerrakete gleichen Typs auf der Abschussrampe im kasachischen Baikonur fotografiert.

Die meisten Kommentatoren aber brachte erst der Sputnik-1-Start auf den Gedanken, dass eine solche Rakete, die etwas im Orbit absetzen konnte, auch eine Wasserstoffbombe nach New York tragen könnte, und dass amerikanische Interkontinentalraketentests vergleichsweise schlecht liefen. Ich selbst schrieb damals einen Leitartikel über die Lage für die Florence Morning News.

Die wichtigste Aufgabe bestand zunächst darin, Sputnik auf seiner Umlaufbahn zu verfolgen. Amateure wie Profis begannen, die Funksignale einzufangen und den kleinen weißen Planeten auf seinem Weg am nächtlichen Himmel zu überwachen.

Sputnik überwachen - ein Zeitvertreib

Englische High-School-Schüler bestimmten als erste Sputniks Bahn um die Erde, indem sie Funksignale auswerteten, die die 76 Meter messende Funkschüssel des englischen Jodrell Bank Observatory abgefangen hatte. Das Smithsonian Astrophysical Observatory in Harvard setzte sein weltumspannendes Netz aus Baker-Nunn-Satellitenkameras ein.

Zudem ermutigte das Institut Amateur-Astronomen, nachts im Freien Fernrohre aufzustellen, um Sputnik zu verfolgen. Ich war als Reporter Zeuge dieser nächtlichen Beobachtungen auf einem Feld nahe Charlotte, North Carolina. Immer wenn der weiße Punkt eine bestimmte Linie überquerte, rief ein Hobbyastronom laut, und Station für Station notierten die Helfer die Zeit. So halfen sie, Sputniks Umlaufbahn genauer zu berechnen.

Sputnik und später dessen Nachfolger zu überwachen, war ein beliebter Zeitvertreib und eine todernste Angelegenheit zugleich. Jahr für Jahr sammelte man Daten über die Bewegungen der Satelliten auf ihren Bahnen im Orbit. So verstand man umgekehrt auch die Erde immer besser - ein Grundwissen von militärischer Bedeutung. Kleinste Veränderungen der Erdanziehungskraft beeinflussen den Flug von Interkontinentalraketen und damit deren Treffgenauigkeit. Angetrieben von der Notwendigkeit der Satellitenüberwachung, begannen Wissenschaftler der Johns Hopkins University in Baltimore bald damit, Navigationssatelliten zu konzipieren - und ebneten so den Weg zum heutigen GPS.

Bald nach dem ersten Sputnik kam der wesentlich größere Sputnik 2. An Bord war die Hündin Laika, eine Vorbotin der bemannten Raumfahrt. Als Reporter für den Charlotte Observer in North Carolina durfte ich Herzspezialisten darüber spekulieren lassen, wie lange die Hündin wohl durchhalten würde. Nur dreieinhalb Jahre später, im April 1961 flog mit Juri Gagarin der erste Mensch ins All.

Erdnahe Trabanten

Aber Sputnik bedeutete mehr als die Eroberung des Weltraums. Der Satellit kam nur drei Jahre nach den ersten amerikanischen Wasserstoffbomben-Tests im pazifischen Eniwetok- Atoll. Es waren Bomben, so klein, dass Kampfflieger oder Raketen sie transportieren konnten, und doch schlagkräftig genug, um eine ganze Stadt zu verwüsten. Eine vergleichbare Waffe testeten die Russen im Herbst 1955 über Zentralasien. 1957 waren die Reaktionen daher von düsteren militärischen Vorahnungen geprägt.

Dabei hatte Sputnik unmittelbare, vor allem wissenschaftliche Auswirkungen! Nur vier Monate nach dem Sputnik-Schock brachten die Amerikaner einen Aufklärungssatelliten ins All, der eine fundamentale wissenschaftliche Entdeckung lieferte: Unser Planet ist von einem gewaltigen Gürtel geladener Teilchen umgeben, die durch das Magnetfeld der Erde eingefangen werden. Nach dem leitenden Wissenschaftler der Mission heißt dieser Gürtel heute Van-Allen-Gürtel.

Es war der Beginn einer Ära wissenschaftlicher Forschung, in der die Entdeckungsreisenden ihren Heimatplanet noch nicht verließen. Stattdessen steuerten sie ihre Geräte aus der Distanz - Lichtsekunden, Lichtminuten und inzwischen auch Lichtstunden entfernt. Das Sonnensystem war für die Menschen nun nicht länger eine Anordnung winziger Punkte am Himmel, sondern eine weit ausgedehnte Ansammlung verschiedener Welten, die immer detailreicher beobachtet werden konnten.

Der Sputnik-Schock

Schon 1959 sandten die Russen Raumschiffe aus, die am Mond vorbeiflogen, ihn umrundeten oder auf ihm aufschlugen. Sie machten dabei Bilder von dessen Rückseite und erwarben sich das Recht, die großen Geländeformationen dort zu benennen. 1962 flog die amerikanische Sonde Mariner 2 an der Venus vorbei und entdeckte dabei, dass der Planet kein Magnetfeld besitzt. Auf den Aufnahmen der Mariner 4 von der Oberfläche des Mars im Jahr 1964 waren keine Anzeichen von Leben zu sehen. Russische Sonden landeten auf der Venus und sandten sogar Bilder der heißen Oberfläche zur Erde, ehe sie zerschmolzen.

Die 60er Jahre hindurch schickten die Amerikaner Sonden zum Mond, fotografierten dessen Oberfläche und durften deshalb den meisten kleinen Geländeformationen Namen geben. Surveyor-Sonden landeten auf dem Mond, machten Bilder und untersuchten die chemische Beschaffenheit des Bodens. Sie sollten die Besuche der Apollo-Astronauten vorbereiten, aber sie waren auch der Beginn eines wissenschaftlichen Trommelfeuers in Richtung Weltraum, dessen Intensität seither nicht nachgelassen hat.

Ära der Kommunikationssatelliten

Es folgten Satelliten für Navigation, Wettervorhersage und Kommunikation. Am 1. April 1960 startete die erste Sonde, die Wolkendecken fotografieren konnte. Tiros 1 war der Vorläufer des Netzes aus Wettersatelliten, die heute die Daten für die Wetterkarten im Fernsehen produzieren. 1962 wurde ein von den Bell Labs entworfener Satellit namens Telstar auf einer erdnahen Umlaufbahn ausgesetzt, der Fernsehprogramme zwischen Andover in Maine und Pleumeur-Bodou in der Bretagne übertrug.

Wenn beide Stationen Telstar kontaktieren konnten, durften Zuschauer in Maine in halbstündigen Intervallen miterleben, wie etwa Yves Montand für sie über den Atlantik hinweg sang. Ein Jahr später positionierte sich ein hutschachtelförmiges Gerät namens Syncom 2 über dem Äquator, der amerikanische Präsident John F. Kennedy und der nigerianische Premierminister Abubakar Tafawa Balewa - beide sollten bald ermordet werden - konnten so Nettigkeiten austauschen. Es war der Beginn der heutigen Kommunikationssatelliten.

Sputnik führte aber auch rasch zu Geheimsatelliten von vielleicht noch größerer Bedeutung. Diese Spionagegeräte des Militärs schauten nicht nur mit Kameras zur Erde hinunter, sondern auch mit Detektoren für Infrarot und Mikrowellen. Gleich nach Sputnik begannen die Amerikaner, fieberhaft an Satelliten dieser Art zu arbeiten.

Spionagetechnik vom Polaroid-Gründer

Nach einer Folge von Fehlschlägen sandte im August 1960 der mit einer Kamera ausgerüstete Corona-Satellit erstmals erfolgreich eine Filmrolle von seiner Umlaufbahn zur Erde - in einer Kapsel, die der Hitze des Wiedereintritts standhielt. Das war kurz nachdem der Air-Force-Pilot Gary Powers am 1. Mai über dem russischen Jekatarinenburg abgeschossen worden war und die Amerikaner ihre U-2-Spionageflüge einstellen mussten. Ich selbst kam mit dem Thema eingehend in Kontakt, als ich meine Biografie über Edwin Land schrieb, der nicht nur die Filmfirma Polaroid gründete, sondern jahrelang geheim an der Entwicklung von Spionageflugzeugen und -satelliten mitwirkte.

Mithilfe der Corona-Filme konnte Präsident Dwight Eisenhower den wirklichen Umfang der sowjetischen Aufrüstung sehen. Er wusste genau, wie viel oder wie wenig die Russen taten. Er war nicht länger ein Gefangener von Worst-case-Phantasien, wie sie andauernd im Pentagon aufkamen. Eisenhower sah, wann die Russen blufften.

Als eine U-2 im Juli 1956 auf einem Luftstützpunkt eine Flotte von 30 Interkontinentalbombern fotografiert hatte, hatten die Amerikaner noch überreagiert. Sie begannen mit dem Bau von 600 B-52-Bombern. Doch als Chruschtschow brüllte: "Raketen werden fliegen!", zeigten Spionagesatelliten, dass nur eine Handvoll russischer Interkontinentalbomber überhaupt startklar war. Ohne diese Bilder hätten die Amerikaner weit mehr Raketen in abgelegenen Bunkern und in U-Booten stationiert.

Der Sputnik-Schock

Dank konstanter Überwachung aber wurde eine gewaltige Bedrohung für die ganze Welt gemindert. Eisenhower und seine Nachfolger konnten die Militärausgaben auf einen - wenngleich auch riesigen - Bruchteil dessen beschränken, was andernfalls als nötig erachtet worden wäre. Präsident Lyndon Johnson fuhr Mitte der 60er Jahre die Produktion von waffenfähigem Uran und Plutonium um 90 Prozent zurück. Aus den Ersparnissen, so erklärte er, könne das gesamte Apollo-Programm finanziert werden.

Apollo - die größte Technologie-Story

Zu dieser Zeit startete die Sowjetunion ihre Kosmos-Spionagesatelliten und erreichte so erneut einen Gleichstand an strategischer Information. Als ich Ende der 60er Jahre von einem dreijährigen Aufenthalt als Wissenschaftsreporter in Europa in die USA zurückkehrte und zum Boston Globe ging, wurde ich auf die größte Technologie-Story unserer Zeit angesetzt - die Apollo-Flüge zum Mond.

So kam es, dass ich an einem feuchten Morgen im Juli 1969 als einer unter Hunderten von Journalisten Armstrong, Aldrin und Collins von Cape Canaveral abheben sah - auf der Spitze einer mehrstufigen Rakete sitzend, die ein ohrenbetäubendes Getöse von sich gab. Ich hörte den berühmten Science-Fiction-Schriftsteller Arthur C. Clarke dennoch neben mir sagen: "Das ist der letzte Tag der alten Welt."

An der Berichterstattung über die Apollo- Spektakel interessierte mich weniger, dass Amerika Russland etwas bewies, als vielmehr die für alle stellvertretende Erfahrung einer Reise zu einem fremden, weit entfernten Ort. Ich wollte über das Wissen berichten, das mit zurückgebracht wurde. Das war für mich der wahre Wert von Apollo.

Lavagestein vom Mond

Man konnte dem zehnminütigen Aufstieg über Hawaii zuschauen. Im Auge der Kamera wurde die Erde kleiner und kleiner. Später sah man dank der Bordkamera die Wüsten und Gebirge des Mondes unter der Apollo-Kapsel vorbeigleiten. Und nach der Landung konnte man mithilfe einer kleinen, auf das Mondauto montierten Fernsehkamera, den Astronauten stundenlang zusehen und zuhören, wie sie Jagd auf Gesteins- und Bodenproben machten. Als wir die ersten von Apollo 11 gesandten Schwarz-Weiß-Bilder sahen, kam mir die immense Weite der Antarktis in Erinnerung, die wie der Mond ein Kontinent für die Wissenschaft ist.

Ich war im Lunar Receiving Laboratory außerhalb von Houston beim Öffnen der ersten Kiste voller Proben dabei, die Apollo 11 zur Erde gebracht hatte. "Lavagestein!", rief ein Harvard-Wissenschaftler, als er das Felsstück sah, das an Basalt vom Meeresboden erinnerte. Es war ein Zeichen dafür, dass der Mond bei seiner Entstehung vor viereinhalb Milliarden Jahren völlig geschmolzen war.

Am 20. Juli 1976 - damals arbeitete ich für die New York Times - war ich im Jet Propulsion Laboratory (JPL) in La Canada, Kalifornien, als die ersten Bilder der Zwillingskameras einer Viking-Sonde eintrafen, die als erste auf dem Mars gelandet war. Die Bildelemente bauten sich Spalte für Spalte auf dem Bildschirm auf und offenbarten schrittweise die felsige Oberfläche.

13 Jahre später war ich wieder im JPL, um über den letzten Planetenbesuch einer Voyager-Sonde zu berichten, die zehn Jahre zuvor gestartet war. Er galt dem Neptun, dessen großer blauer Fleck dem roten Fleck auf dem Jupiter glich. Er wurde immer größer, je näher die Sonde kam. Wissenschaftler konnten die stürmischen Winde der Neptun-Atmosphäre messen.

Der Sputnik-Schock

Sie standen vor einer schwierigen Entscheidung: Welche Blende sollten sie für eine Bordkamera wählen, die auf Neptuns größten Mond Triton ausgerichtet werden würde? Mehr als vier Lichtstunden von der Erde entfernt, segelte Voyager gerade über Neptuns Nordpol, kurz vor dem entscheidenden Manöver. Aus Angst vor Überbelichtung entschieden die Wissenschaftler in letzter Minute, den Lichtfluss durch die Linse zu reduzieren und sandten einen entsprechenden Befehl zu Voyager. Stunden später wurden ich und andere Reporter, die vor Videoschirmen des JPL gedöst hatten, plötzlich geweckt und wir sahen eine Reihe einwandfrei belichteter Aufnahmen der seltsamen Oberfläche von Triton.

Ein Schock wie Pearl Harbor

Der Datenstrom aus dem All hat seit dieser Zeit nicht mehr nachgelassen. Heute konzentrieren sich jedoch viele Raumsonden wieder auf die Erde, sie verfolgen den Weg der Hurrikane, messen den Meerespiegel millimetergenau und beobachten aus dem All, wie sich die Vegetation verändert, wie sich Wüsten ausdehnen und Eisberge schmelzen. Sie schauen aber auch nach draußen, in die Weiten des Alls, beobachten unsere Nachbarplaneten, verfolgen Kometen und Asteroiden - besonders die, die auf uns zukommen.

Zusammen mit erdgestützten Einrichtungen wie der Europäischen Südsternwarte suchen Raumsonden nach Exoplaneten, die um benachbarte Sterne kreisen. Sie untersuchen Pulsare, Quasare, Galaxien und Schwarze Löcher. Heute, fünfzig Jahre nach Sputnik, befinden sich Sonden wie die Voyagers auf langen, stillen Reisen, die sie bald aus unserem Sonnensystem hinausführen werden, eine internationale Raumstation umrundet die Erde, und Pläne für die Entsendung von Menschen auf den Mars nehmen Gestalt an.

All die Geschichten aus den fünfzig Jahren der Weltraumerkundung machen es allzu einfach, die sozialen Auswirkungen des Rennens in den Weltraum zu vergessen. Amerikaner und Europäer nahmen Sputnik 1 nahezu wie ein Pearl Harbor wahr. Es war ein Schock, verursacht von einer Diktatur, die auf Wissenschaft und Technik setzte.

Auswirkungen auf die ganze Wissenschaft Die Menschen aus dem Westen wollten die an die Russen verlorene Führung wiedererlangen. Dies löste eine Explosion der Ausgaben für die Wissenschaft aus, sowie einen Wandel im Unterricht der naturwissenschaftlichen Fächern an Schulen.

Mit den Antworten auf den "Sputnik- Schock" habe ich mich als Reporter bis heute befasst. Ich schrieb über die grundlegenden Veränderungen im naturwissenschaftlichen Unterricht; über einen Streit um die Leitung eines kleinen Wissenschaftsmuseums; über die Arbeit von High-School-Lehrern in naturwissenschaftlichen Fächern. Und es gab Geschichten über Gagarins Flug von 1961, über die von Glenn und Carpenter von 1962. Sputnik machte mich zu einem Wissenschaftsreporter.

Sputnik hat mein ganzes Leben verändert. Und Sputnik hat für immer die Gesellschaft verändert. Die drastischen Maßnahmen in Ausbildung und Wissenschaft beschleunigten sowohl die Mikroelektronik als auch die Biotechnologie; das Internet und die Revolution in der Gentechnik sind nur zwei ihrer Resultate, die wir heute erleben. Sputnik hat Revolutionen für Milliarden Menschen gebracht, die die Erde nie verlassen haben.

Victor McElheny (71) ist einer der bekanntesten amerikanischen Wissenschaftsjournalisten. Er arbeitete unter anderem für die New York Times. Derzeit schreibt er an einem Buch über das Genomprojekt.

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