Radioaktiver Abfall:Wenn im Lift die Knöpfe verstrahlt sind

Oft gehen radioaktive Stoffe aus Kliniken und Forschung verloren - und tauchen zuweilen in anderen Produkten wieder auf. Zum Beispiel im Fahrstuhl.

Jan Wehberg

Es war ein Versehen, natürlich, und die Strahlung ist nicht sehr stark. Aber dort, wo die Radioaktivität entdeckt wurde, gehört sie nun wirklich nicht hin: in die Knöpfe normaler Fahrstühle. Genau das ist jedoch passiert. In einigen Aufzügen des weltweit führenden Herstellers Otis drückt man offenbar auf Knöpfe, deren Metall radioaktives Kobalt-60 enthält.

Radioaktiver Abfall: Radioaktiver Abfall kann zum Beispiel aus Geräten für Strahlentherapie stammen.

Radioaktiver Abfall kann zum Beispiel aus Geräten für Strahlentherapie stammen.

(Foto: Foto: AP)

Das Gute an dem Fall ist: Er wurde entdeckt, die Knöpfe werden entfernt. Doch das Ereignis führt ein erschreckendes Phänomen der modernen Industriegesellschaft vor Augen. Radioaktiver Abfall vagabundiert um die Welt und dringt offenbar auch in Produktionskreisläufe der Industrie ein.

Es geht dabei nicht um Uran aus Kraftwerken oder Bomben-Plutonium. Es geht um alltägliche Strahlenquellen, aus Kliniken, Universitäten, Schulen und Industriebetrieben. Der Weg, auf dem die strahlenden Bauteile in die Aufzugspaneele von Otis kamen, ist beeindruckend.

Die Knöpfe stammen aus Indien, wo eine radioaktive Strahlenquelle im Altmetall gelandet sein muss und eingeschmolzen wurde. Aus dem Metall entstanden die Liftknöpfe. Woher die Strahlenquelle stammt, ist unklar. Nur soviel: Radioaktives Kobalt-60 wird in der Medizin und in der Materialprüfung verwendet.

Offenbar sind die fraglichen Knöpfe auch in Deutschland verbaut worden. "Es gibt in geringem Umfang Lieferungen nach Deutschland", sagte ein Sprecher der Firma. Es bestehe aber keine Gefahr für die Gesundheit. Die britische Tageszeitung Guardian meldete jedoch, 20 französische Arbeiter seien Strahlenbelastungen ausgesetzt gewesen, die dreimal so hoch lagen wie der jährlich erlaubte Grenzwert. Die französische Atomaufsichtsbehörde (ASN) klassifizierte den Vorfall mit Stufe zwei auf einer siebenteiligen Skala.

Lascher Umgang mit strahlenden Stoffen ist offenbar Alltag in der modernen Zivilisation. Radioaktive Bauteile aus medizinischen Geräten, Messinstrumenten oder wissenschaftlichen Experimenten werden nachlässig entsorgt. Dabei enthalten sie genau jene Substanzen, die Terroristen für sogenannte schmutzige Bomben nutzen könnten. Außerdem können die Strahlenquellen im Schrott landen und weiterverarbeitet werden - wie im Fall Otis.

Anders als in Deutschland gibt es in indischen Gießereien keine Detektoren, die radioaktive Stoffe entdecken. So können radioaktive Teile zusammen mit Metallschrott eingeschmolzen und zu strahlenden Produkten weiterverarbeitet werden. Das Problem ist jedoch nicht auf Indien und andere Schwellenländer beschränkt.

Auch in Deutschland tauchen regelmäßig herrenlose Strahlenquellen auf. Vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) ist zu erfahren, dass allein in diesem Jahr 30 von ihnen in Deutschland gefunden wurden. Dabei kann es sich nach Angaben des BMU um "alles handeln": belasteter Metallschrott oder Bauteile von Geräten aus radiologischen Praxen.

Die Schrottpreise sind in den vergangenen Jahren wegen der Ressourcenknappheit drastisch gestiegen. Damit wächst die Gefahr, dass radioaktives Material beim Recycling in neue Produkte eingebaut wird.

Wenn im Lift die Knöpfe verstrahlt sind

Die indische Regierung will nun Detektoren in Hafenanlagen aufstellen. Doch in Deutschland gibt es ein umgekehrtes Manko: Eisengießereien werden kontrolliert, die Häfen jedoch kaum. Belastetes Material kann daher unbemerkt ins Land gelangen.

Im August dieses Jahres sind nach Angaben der Firma GHS Strahlenschutz, die Strahlenüberwachung für Schrott- und Metallbetriebe anbietet, 22 Tonnen mit radioaktiven Stahlstangen aus Indien nach Hamburg gelangt. Die Ladung wurde nur entdeckt, weil ein Teil der Lieferung nach Sankt Petersburg ging und dort geprüft wurde.

Kurt Engelmann von der Bremer Gewerbeaufsicht sagt: "Es gibt in Deutschland eine Selbstverpflichtung der Industrie, nach radioaktivem Material zu suchen. Trotzdem sollte die Bundesregierung über schärfere Kontrollen nachdenken." Im Moment sei es Zufall, wenn man auf Strahlenquellen stoße.

In Hamburg betreibt der Zoll lediglich eine Anlage zum Aufspüren radioaktiver Strahlung. Sie steht an einer von mehreren Ausfahrten des Freihafens. Damit sie nicht umfahren werden kann, ist der genaue Standort geheim. Arne Petrick vom Hamburger Zoll schätzt, dass etwa 60 Prozent der Container kontrolliert werden.

"Eventuell werden noch Detektoren für alle Zufahrten angeschafft", so Petrick, "aber das ist eben immer eine Investition." Von den 17 im Jahr 2008 in Hamburg gemeldeten Funden von radioaktiv belastetem Material tauchte aber nur einer im Hafen auf. Die übrigen Strahler wurden in den Müllverbrennungsanlagen der Stadt entdeckt.

"Harmlose Fälle mit geringer Strahlenbelastung", beteuert Rico Schmidt von der Hamburger Gesundheitsbehörde; alte Wecker und Lacke, was für die hohe Empfindlichkeit der Detektoren spreche.

Intensiv geprüft wird im Hafen von Rotterdam. Tie Schellekens, Sprecher des Hafenbetriebs: "Wir haben etwa 50 solcher Anlagen." Container, die von Ozeanriesen direkt auf kleinere Schiffe gehen, werden aber nicht kontrolliert. In Lübeck, Kiel und Rostock sind gar keine Detektoren vorhanden.

"Die Schrottverwerter haben eine wahnsinnige Angst"

Horst Janku, ebenfalls von der Bremer Gewerbeaufsicht, beobachtet die Anlandung von Schrott mit Sorge. "Die Schrottverwerter haben alle eine wahnsinnige Angst", sagt er. Sollte bei einem radioaktives Material auftauchen, so wäre er für die Entsorgung verantwortlich.

Wenn im Lift die Knöpfe verstrahlt sind

"Stellen Sie sich das mal bei 1000 Tonnen Stahl vor, was da für Kosten entstehen." Die meisten Stahlschmelzen schützen sich daher mit Detektoren vor heikler Ware. Auch Schrotthändler kontrollieren eingehende Lieferungen, aber längst nicht alle.

Einige Betriebe prüfen aber nicht die ausgehende, sondern nur die eingehende Ware. Sollte die Strahlungsquelle zu diesem Zeitpunkt noch in einem Behälter abgeschirmt sein, würde sie unentdeckt bleiben. Das bestätigt auch Klaus Coy von der Abteilung Strahlenschutz des Bayerischen Landesamtes für Umweltschutz. Auch der übrige Schrott würde eine Strahlenquelle möglicherweise zusätzlich abschirmen. So könnte doch radioaktives Material in die Hochöfen gelangen.

Vor zehn Jahren verseuchte Cäsium-137 das versehentlich eingeschmolzen wurde, das südspanische Stahlwerk Acerinox. Die radioaktive Freisetzung lag nach Angaben von Greenpeace tausendmal höher als gewöhnlich und konnte sogar noch in der Schweiz gemessen werden.

Die Schrottlieferung stammte vermutlich aus Irland oder den Niederlanden. Ein anderer gravierender Unfall mit einer unbeaufsichtigten Strahlenquelle ereignete sich in der brasilianischen Stadt Goiânia. Diebe hatten radioaktives Material aus einer ehemaligen Klinik gestohlen und das geheimnisvoll blau leuchtende Material unter ihren Bekannten verteilt. Vier Menschen starben, weitere wurden verletzt und Teile der Stadt mussten dekontaminiert werden.

Manche Funde wurden gar nicht als verloren gemeldet

Am Dienstag vergangener Woche hat Mohammed el-Baradei, Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation IAEA, vor der UN-Vollversammlung erschreckende Zahlen genannt: Allein zwischen Juni 2007 bis Juni 2008 seien 250 Fälle von verloren gegangenem radioaktiven Material bekannt geworden. Teilweise würden sogar Strahlenquellen aufgefunden, die überhaupt nicht als verloren gemeldet waren.

Nach IAEA-Schätzungen gehen in Europa jährlich 70 Strahlungsquellen verloren. Außerdem seien 30000 ausgemusterte Quellen, die sich noch bei den ehemaligen Nutzern befinden, unzureichend geschützt und könnten leicht in falsche Hände geraten.

In den USA sind nach Angaben der IAEA seit 1996 etwa 1500 Strahler verschwunden, von denen nur die Hälfte wieder aufgetaucht sind. Im April dieses Jahres sind nach Angaben des Bundeskriminalamtes in Polen zwölf Bleibehälter mit radioaktiven Kobalt-60-Quellen abhanden gekommen, sonderbarerweise in einer Eisengießerei. Nur zehn davon seien wieder aufgetaucht. Ob es sich um Diebstahl handelt oder um ein Versehen, ist unbekannt.

Die Wiener Atombehörde führt mittlerweile eine Datenbank über den illegalen Umgang mit radioaktiven Stoffen (ITDB). Diese umfasst aktuell 1340 bestätigte Fälle. Allein in Deutschland sind in diesem Jahr bereits 19 Strahlenquellen verlorengegangen, teilt das Bundesumweltministerium mit - die meisten davon aus Schulen.

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