Psychologie:Was geschah mit Baby B.?

John Watson war skrupellos, sein Angst-Experiment machte Wissenschaftsgeschichte. Doch seine elf Monate alte Versuchsperson wurde vergessen. Nun ergründen Historiker das Schicksal von Little Albert.

Von Bernd Graff

Im Februar 1920 erschien im Journal of Experimental Psychology ein Aufsatz von John Watson und Rosalie Rayner unter dem Titel "Conditioned Emotional Reactions". Die beiden Autoren waren experimentelle und vergleichende Psychologen, und ihr Aufsatz war die verschriftete Auswertung eines Experiments, das sie Ende 1919 durchgeführt hatten. Dieses Experiment hat vor allem den älteren Watson, der seit 1908 eine der ersten Psychologie-Professuren an der Johns Hopkins University in Baltimore innehatte, bis auf den heutigen Tag berühmt gemacht. Als "Little Albert Experiment" ist es in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen.

Watson hatte sich der Verhaltensforschung und hier der Lehre der klassischen Konditionierung nach Iwan Petrowitsch Pawlow verschrieben. Pawlow hatte mit Hunden experimentiert. Er stellte fest, dass einem Hund buchstäblich das Wasser im Maul zusammenläuft, wenn er sein Futter nur sieht. Pawlow ließ nun jedes Mal, bevor er seinen Hund fütterte, eine Glocke ertönen. Irgendwann hatte der Hund gelernt, die bevorstehende Fütterung mit dem Glockenschlag zu verbinden. Schließlich reichte der Glockenschlag, um das Hundesabbern auszulösen. Watson glaubte nun, dass es diese "bedingten Reflexe", die eine spezifische Reaktion (Sabbern) an einen Reiz (Glockenschlag) binden, nicht nur bei Hunden gibt und übertrug das Modell auf das menschliche Verhalten.

Er meinte also, mit seinen Experimenten beweisen zu können, dass jedes menschliche Verhalten auf solchen Reiz-Reaktions-Mechanismen beruhe. Entsprechend muss der Titel seines Aufsatzes auch gelesen werden: Wer von "bedingten emotionalen Reaktionen" spricht, meint nicht, dass Gefühle naturgegeben sind, sondern, dass sie von - dann auch steuerbaren - Reizen ausgelöst werden.

In seinen Ratgebern sprach sich Watson für ein robustes Mandat im Kinderzimmer aus

Mit diesen Thesen und seinen Experimenten ist Watson der Welt als Begründer der Theorie des Behaviorismus in Erinnerung geblieben. Watson, der von seinen Studenten zum "handsomest professor on campus" gewählt worden war, hatte zum Zeitpunkt des Experiments eine Affäre mit der Studentin Rosalie Rayner, der Co-Autorin dieses Aufsatzes. Eine Affäre, die aufflog. Es folgten Rosenkrieg und Scheidung, die es auf die Titelseiten der Tagespresse von Baltimore schafften. Intime Passagen aus den Liebesbriefen Watsons fanden ihren Weg in die Presse. Dieser Skandal war Negativ-PR für die Universität. Ihr Präsident fürchtete um den Ruf seiner Anstalt und legte dem Star-Professor Watson daher nahe, seine Professur aufzugeben, was dieser im Lauf des Jahres 1920, dem Jahr der Veröffentlichung des Aufsatzes, auch tat.

Damit war die wissenschaftliche Karriere für den Mittvierziger gelaufen. Watson heiratete dann Rayner, arbeitete bis 1945 als Werbepsychologe, frönte teuren Hobbys wie Rennboot-Rennen und schrieb Erziehungsratgeber. In ihnen sprach er sich für ein robustes Mandat der Eltern im Kinderzimmer aus. Sie verkauften sich extrem gut. Der Tenor: Mutterliebe und Liebkosungen machen die Kinder zu weich für diese Welt und schwächen ihre späteren Erfolgschancen im Leben - so etwa.

Aus dieser, heute verstörenden Haltung Kleinkindern gegenüber ist das "Little Albert-Experiment" erwachsen, Watson und Rayner haben sich dabei sogar filmen lassen. Der Film zeigt, wie sie einem elf Monate alten Baby im Wortsinn: Furcht beibringen. Die Aufzeichnung ist erhalten. Sie kennt jeder Psychologiestudent auf der Welt, unter dem Stichwort "Baby Albert" findet es sich leicht bei Youtube.

Darin sieht man zuerst, wie dem Kleinkind nacheinander eine brennende Zeitung, ein kleiner Affe, ein Hund, eine Ratte, ein Kaninchen, ein Pelzmantel und schließlich Watson selbst hinter einer haarigen Nikolausmaske gezeigt werden. Rayner fungiert dabei als teilnahmslose Stütze hinter dem aufrecht sitzenden Baby. Nach Auskunft Watsons hatte das Kind nichts von dem, was man ihm zeigte, zuvor in seinem Leben gesehen. Zuerst reagierte es keineswegs ängstlich, sondern, wenn überhaupt, nur milde interessiert. Dann aber übertrugen die Forscher das Grundmuster der Pawlowschen Konditionierung von der Tierpsychologie auf das Kinderexperiment. Immer, wenn sie dem Baby danach etwas vorführen, schlägt jemand hinter seinem Rücken mit einem Hammer auf eine Eisenstange. Das Kind erschrickt und verbindet, so Watsons Ergebnis, in Folge das präsentierte Tier, die Maske, den Pelzmantel und die brennende Zeitung mit Furcht und Erschrecken. Es fürchtet sich schließlich auch ohne den Hammerschlag vor dem gezeigten Gegenstand oder Tier.

Im Aufsatz klingt das in den Worten Watsons so: "8. Versuch. Ratte allein - ohne Schlag. In dem Augenblick, in dem die Ratte gezeigt wurde, begann das Baby zu weinen. Fast sofort wandte es sich scharf nach links, fiel auf die linke Seite, brachte sich auf alle Viere und fing an, so schnell wie möglich wegzukrabbeln."

"Natürlich", so hatte Watson zuvor eingeräumt, "gab es bei uns erhebliche Bedenken, ob wir Angstreaktionen experimentell in einem Kind aufbauen sollten. Wer sich an solche Verfahren wagt, trägt ja eine gewisse Verantwortung. Wir entschieden, den Versuch zu wagen. Denn wir trösteten uns mit dem Gedanken, dass Angstreaktionen ja sowieso auch ohne uns entstehen, wenn ein Kind das geschützte Umfeld der Kinderklinik für die rauen Widrigkeiten seines häuslichen Umfeldes verlassen muss."

Der Aufsatz schließt mit zwei bemerkenswerten Passagen: Zum einen müssen die Autoren einräumen, dass es leider nicht mehr möglich war, Alberts Ängste nach den Experimenten zu "de-konditionieren", also wieder rückgängig zu machen: "Unglücklicherweise nahm man Albert gleich nach dem letzten Versuch aus dem Hospital. Und so war uns die Rücknahme seiner konditionierten emotionalen Reaktionen verwehrt."

Zum anderen können sich die Autoren dann den hämischen Seitenhieb auf die konkurrierenden Theorien von Freuds Psychoanalyse nicht verkneifen: "Wenn nun Freudianer in zwanzig Jahren Alberts Angst vor dem Pelzmantel analysieren, werden sie, falls er sich denn einer Psychoanalyse unterzieht und solange sie ihre Hypothesen nicht ändern, vermutlich einen Traum aus ihm herauskitzeln, der darlegen wird, dass Albert im Alter von drei Jahren mit den Schamhaaren seiner Mutter spielen wollte, weswegen er gewaltig ausgeschimpft wurde." Ha, Ha!

Während die scharfen Disziplinierungsstrategien des Watson-Behaviorismus vom Wissenschaftsdiskurs im Laufe der letzten einhundert Jahre abgeschliffen und für ethisch bedenklich erklärt wurden und die Studenten das "Little Albert-Experiment" als historische Episode ihres Fachs kennen lernten, blieb einer aus dem Trio fast ein Jahrhundert lang seltsam unbeachtet: der kleine Albert.

Erst mit dem Beginn unseres Jahrtausends regt sich in US-amerikanischen Psychologen-Kreisen ein Interesse an "Little Albert" auf der Matratze in der "Phipps Psychology Clinic", die der Johns Hopkins University angegliedert war. Wer war eigentlich dieser von dem ruchlosen Watson und der ungerührten Rayner trotz der scheinheiligen Bedenkenhuberei experimentell missbrauchte Junge? Ihm hatte man ja eine Phobie vor Fell und Feuer künstlich beigebracht. Wurde sie zum Schaden für sein Leben? Konnte er sich später daran erinnern? Was wurde aus ihm?

Schwierige Fragen. Denn Watson hatte nur spärliche Details zu Albert in seinen Veröffentlichungen zum Experiment niedergelegt. Er nannte ihn darin "Albert B.", bezeichnete ihn als "normalen Jungen". "Gesund von Geburt an" sei er gewesen und "einer der am besten entwickelten Kinder, die man je in die Klinik gebracht" habe. Er sei 8 Monate und 26 Tage alt gewesen zum Zeitpunkt der Verfilmung und habe da 21 Pfund gewogen. "Seine Stabilität", so Watson in dem Papier, "war einer der Hauptgründe für seine Verwendung beim Test. Wir fühlten, dass wir ihm relativ wenig Schaden durch solche Experimente zufügen würden."

Watson, der in der Überzeugung lebte, dass "wenn du tot bist, dann bist du wirklich tot", hatte vor seinem Dahinscheiden im Jahr 1958 sämtliche unveröffentlichten Aufzeichnungen aus seinen verstreuten Karrieren vernichtet. "Little Albert" blieb verschollen. Bis sich der Psychologe Hall Beck von der Appalachian State University im Jahr 2001 auf die Suche nach ihm machte. Sie dauerte fast neun Jahre. Dann meldete sich Beck mit einem Aufsatz zu seinen kriminalistisch angelegten Studien. Und seine Ergebnisse warfen einen noch düstereren Schatten auf Watson.

Ausgehend von der Altersangabe, die Watson zu "Albert B." gemacht hatte, und dem Hinweis, dass dessen Mutter eine Amme an dem "Harriet Lane Home for Invalid Children" war, das auf dem Johns Hopkins Campus lag, rekonstruierte Beck, dass es drei Frauen gab, die möglicherweise im März 1919 einen "Albert" zur Welt gebracht haben könnten. Eine Afro-Amerikanerin schied sofort aus, der Albert im Film war weißhäutig. Dann gab es noch eine "Pearl Barger", auch sie eine Amme, die zudem noch einen Nachnamen trug, der mit "B" begann. Doch Beck und der Co-Autor seines Aufsatzes, Sharman Levinson, ein Psychologie-Professor an der American University in Paris, konnten keinen Hinweis darauf finden, dass Barger tatsächlich ein eigenes Kind im "Harriet Lane Home for Invalid Children" untergebracht hatte. Blieb also Arvilla Merritte. Sie passte anscheinend perfekt: Geburtstag ihres Sohnes Douglas, seine Hautfarbe, Arbeitsverhältnis als Amme an der Harriet Lane - alles prima. Bis auf den Namen. Warum nur sollte Watson nicht von einem "Douglas M." in seinem Aufsatz gesprochen haben, sondern von "Albert B.", wenn er mit Douglas Merritte arbeitete?

Beck ließ sich von den mittlerweile ausfindig gemachten Nachfahren der Arvilla Merritte Fotos des jungen Douglas geben und brachte sie zusammen mit Porträt- Close-ups aus Watsons Experimentfilm zu William Rodriguez, einem forensischen Anthropologen und früheren Vorstand der Armee-Pathologie nach Washington. Rodriguez verglich die Bilder - und konnte zumindest nicht ausschließen, dass die Gesichter auf den vorgelegten Fotos tatsächlich zu einer identischen Person gehören könnten. Beck suchte weiter, konnte nichts wirklich Erhellendes finden, aber auch nichts, was seine Theorie widerlegte. Also veröffentlichte er 2009 seinen Aufsatz im Tenor: Little Albert kann als Douglas Merritte identifiziert werden. Als dieser Douglas Merritte wird "Albert B." auch heute noch in der deutschen Wikipedia im Eintrag zum Little-Albert-Experiment geführt. Doch das ist keineswegs gewiss.

Denn 2011 erschien im Journal History of Psychology ein Aufsatz von Russell Powell, einem Psychologie-Professor an der MacEwan University in Edmonton, in dem dieser Becks Beweisführung stark anzweifelte, aber auch nicht widerlegen konnte. Auch damit nicht genug. Denn im Jahr 2012 veröffentlichte Beck einen Folge-Beitrag, diesmal zusammen mit Alan Fridlund, einem Psychologen an der University of California in Santa Barbara. Dieser hatte sich den Watson-Film genauer angesehen und die These aufgestellt, Little Albert sei ganz bestimmt nicht das gesunde Kerlchen, als das es Watson ausgegeben hatte. Er vermutete neurologische Störungen bei dem Kind. Das führte nun zu William Goldie, einem Kinder-Neurologen, der auch Dritt-Autor in Becks Folge-Paper wurde.

Onkel Albert hatte keine Kinder, lebte mehr oder weniger allein und fürchtete sich vor Hunden

Goldie hatte keine Ahnung, um was es sich bei dem Experiment handelte. Er sah aber: Das Kind reagiert nicht normal auf die angebotenen Reize. Außerdem funktionieren seine Hände für ein neun Monate altes Kind angeblich nicht altersgemäß: Der Junge schaufele mit der Hand, statt Zeigefinger und Daumen wie eine Pinzette zu gebrauchen. Und schließlich fand man auch noch die Krankenakte von Douglas Merritte. Das Kind war tatsächlich schwerbehindert, hatte einen angeborenen Wasserkopf und litt auch noch an einer durch ärztliche Behandlung verursachten Hirnhautentzündung. Außerdem hatte es Untergewicht: Es wurde nicht schwerer als 15 Pfund. Douglas Merritte war ein sehr krankes Kind, war wiederholt in der Klinik und verstarb im Mai 1925.

Was sagt das nun über Watson aus, der ja behauptet hatte, dass sein Little Albert ein gesundes, ja, "eines der am besten entwickelten Kinder" gewesen sei? Und nun das: Hatte er auch noch gelogen? Sollte das stimmen, wäre es endgültig um seinen Ruf in der Wissenschaft geschehen.

Nachdem dieser Aufsatz veröffentlicht war und heftige Explosionen in der Fachwelt ausgelöst hatte, diskutierte Powell, der ja nie an die Albert=Douglas-These geglaubt hatte, die nun aufgekommene Krankengeschichte mit Nancy Digdon, seiner Kollegin an der MacEwan University. Sie fanden, dass man auf den körnigen Filmbildern nichts erkennen könne, das substanzielle Schlüsse zulasse - und machten sich selber auf die Suche nach Little Albert. Die beiden fokussierten sich auf die Dame mit dem verführerischen "B" im Namen, auf Pearl Barger.

Sie kontaktierten den Genealogen Christopher Smithson in Baltimore, der ein wenig Ahnenforschung zu Barger betrieb, und herausfand, dass diese sogar drei Kinder hatte, eines davon auch Albert hieß, allerdings mit Zweitnamen, dass es im März 1919 geboren und kerngesund war, dass sie aber kurz nach dem Watson-Experiment einen Mann namens Martin heiratete, dessen Namen sie und die Kinder annahmen. Albert B. war demnach ein William Albert Barger und ab 1920 ein Albert Martin gewesen. Für Russell A. Powell und Nancy Digdon kann die Albert-Akte nun geschlossen werden. Sie argumentieren mit "Ockhams Rasiermesser": "Argumente und Gegenargumente kann man für jedes historische Phänomen aufzählen - wie die ganzen Verschwörungstheorien ja belegen. Glücklicherweise ist Ockhams Rasiermesser, eine Haltung, die besagt, dass man diejenigen Erklärungen bevorzugen soll, welche nach den wenigsten Vorannahmen verlangen."

Inzwischen hat sich der Journalist Tom Bartlett für den Chronicle of Higher Education aufgemacht, noch lebende Verwandte von Albert Martin zu finden - und er ist fündig geworden. Eine Nichte in Baltimore, Dorothy Parthree, berichtet, dass ihr Onkel Albert Martin keine Kinder hatte, seit einer Scheidung mehr oder weniger allein lebte - und dass er große Angst vor Hunden hatte. Ansonsten sei er munter gewesen. Von einem Experiment habe er nie erzählt, vermutlich habe er selber auch nichts davon gewusst. Auch nicht, dass seine Mutter einst als Amme gearbeitet hatte. Vielleicht wusste er all das nicht, weil seine Mutter ihm nicht die Tatsache zumuten wollte, dass er als außereheliches Kind auf die Welt kam. Man weiß nicht, was er wirklich nicht wusste. Albert Martin, geborener Barger, starb im Jahr 2007. Da war er 87 Jahre alt. Vielleicht war er der berühmteste Little Albert der Welt. Die Debatte geht weiter.

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