Psychologie: Rorschachtest:Der Totenschädel einer Kuh

Ein kanadischer Arzt hat den Rorschachtest ins Netz gestellt - und damit Empörung ausgelöst. Doch viele Psychologen halten den Persönlichkeitstest ohnehin für Humbug.

C. Weber und N. Westerhoff

Okay, sagte sich James Wood, vielleicht hätte er nicht erzählen sollen, dass ihn dieser Farbklecks auf Tafel 10 an zwei blaue Krabben erinnert, die Tango tanzen. Und es war wohl nicht sehr geschickt, in dem gräulichen Symmetriebild den gehörnten Totenschädel einer Kuh auszumachen.

Psychologie: Rorschachtest: Im Zweifel sollte man auf den Rorschachbildern lieber Menschen erkennen als Genitalien oder Teufelshörner - sonst erkennt man plötzlich seine eigene Psyche nicht wieder.

Im Zweifel sollte man auf den Rorschachbildern lieber Menschen erkennen als Genitalien oder Teufelshörner - sonst erkennt man plötzlich seine eigene Psyche nicht wieder.

(Foto: Foto: iStock)

Die daraus folgende Diagnose erstaunte den Probanden dann doch: Er verfüge über eine eingeschränkte Denkfähigkeit, und sein Blick auf die Realität sei gestört, hieß es. Als Egozentriker habe er offensichtlich Beziehungsprobleme - ob er nur in seiner Phantasie mit anderen Menschen verkehre? Außerdem leide er an einer Depression.

So hatte sich der 50-jährige Wood selbst noch nie gesehen, der Absolvent und Doktor renommierter Universitäten, Autor von 30 wissenschaftlichen Aufsätzen und glücklicher Familienvater mit einem, wie er dachte, normalen Sozialleben. Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen - mit ein paar Tintenklecksbildern und der Frage: "Was sehen Sie hier?"

Wood hatte sich einem sogenannten Rorschachtest unterzogen, nicht, weil er unter psychischen Problemen litt, sondern um zu demonstrieren, dass dieser berühmt-berüchtigte Persönlichkeitstest Quacksalberei sei. Der Bericht über seinen Selbstversuch erschien im Jahre 2003 in dem Buch: "What's wrong with the Rorschach?", das im angelsächischen Raum zu einem bis heute andauernden Streit über Sinn und Unsinn dieses Tests führte.

Verärgerte Psychologen

Dieser Streit ist soeben erneut aufgeflammt, nachdem der kanadische Arzt James Heilman die zehn originalen Tintenklecksbilder von Rorschach in der Online-Enzyklopädie Wikipedia veröffentlicht hat, einschließlich der häufigsten Antworten. Eigentlich sollten Testbilder und Auswertungsmethoden den Augen der Fachleute vorbehalten bleiben.

Entsprechend verärgert reagierte der Fachverlag Hogrefe & Huber, der den Rorschachtest bis heute verlegt. Und in den USA, wo der Test immer noch weit verbreitet ist, schimpften führende Psychologen: Wie solle man jetzt noch auf unvoreingenommene Testpersonen stoßen, wenn jeder weiß: Klecks 1, da sieht man am besten die Fledermaus, den Schmetterling oder die Motte?

Das nämlich muss sagen, wer als unauffällig eingestuft werden möchte. Wikipedia, so manche Experten, zerstöre ein altehrwürdiges Standbein der Psychoanalyse.

Das ist ein bisschen übertrieben, denn die fraglichen Bilder kann sich jeder seit Jahren mit etwas Geschick im Netz ergoogeln. Außerdem handelt es sich eben nicht um durchgesickerte Lösungen fürs Mathe-Abitur. "Dafür ist der Test viel zu kompliziert und lebt zu sehr von der Interaktion zwischen Therapeut und Patient", sagt der Psychotherapeut Udo Rauchfleisch von der Universität Basel.

In Deutschland ist das Verfahren ohnehin nicht mehr populär. Bereits 1988 gaben lediglich acht Prozent der Mitglieder des Bundes deutscher Psychologen an, den Rorschachtest noch in der Praxis einzusetzen. In einer Studie aus dem Jahr 2006 tauchte der Test gar nicht mehr in der Top-20-Liste auf. Das Standardlehrbuch der Persönlichkeitspsychologie von Manfred Amelang stuft den Test als wissenschaftlich unbrauchbar ein.

Die spannendere Frage lautet heute eher, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass der Rorschach-Test so wie die Couch zu dem Symbol der modernen Seelenkunde werden konnte. Der Grund könnte ähnlich dem sein, der Menschen dazu verführt, in der Silvesternacht aus gegossenem Blei die Zukunft zu lesen. Wenn ein solches Orakel dann noch einen wissenschaftlichen Anstrich bekommt, befriedigt es das Bedürfnis nach Magie und Autorität zugleich.

Rorschachs steile Thesen

Tatsächlich war der Erfinder des Tests, der Schweizer Psychiater Hermann Rorschach (1884 -1922) bereits als Kind vom damals populären Gesellschaftspiel der "Klecksografie" fasziniert. Vor allem Kinder ließen Tintentropfen in gefaltete Papiere fallen, pressten sie zusammen und vergnügten sich bei der Interpretation der symmetrischen Bilder, die dabei entstanden.

Bekannt wurde der Dichter Justinus Kerner, der in einem Büchlein Gedichte zu den "Tintensäuen" schrieb, die ihm aufs Briefpapier getropft waren. "Aus Dintenfleken ganz gering / Entstand der schöne Schmetterling. / Zu solcher Wandlung ich empfehle / Gott meine flekenvolle Seele" dichtete Kerner zu einem Bild, das große Ähnlichkeit mit Klecks 1 der immer noch aktuellen Testserie hat.

Bewegt oder doch instabil

Psychiater Rorschach - Spitzname "Klecks" - testete mit den Klecksbildern anfangs die Kreativität von Kindern, Jahre später auch die Persönlichkeit und geistige Gesundheit von Erwachsenen. Nach der Analyse von 300 psychisch kranken Menschen und 100 Kontrollpersonen hatte er dann sein Diagnosesystem entwickelt, das er 1921 unter dem Titel "Psychodiagnostik" veröffentlichte.

Es stellte steile Thesen auf: Sah die Testperson viel Bewegung in den Klecksen, deutete dies auf Introversion und Kreativität, war sie von Farben beeindruckt, war sie womöglich instabil. Ein Jahr später starb Rorschach an einer Bauchfellentzündung.

Anfangs wenig beachtet, erlebte das System seine erste Blütezeit im Zweiten Weltkrieg, als emigrierte deutsche Psychoanalytiker wie der Berliner Freudianer Bruno Klopfer das Verfahren in die USA exportierten. Sie stießen auf großes Entgegenkommen vor allem bei US-Militärärzten, schreibt Buchautor Wood.

Mediziner, die sich zuvor mit Ratten beschäftigt hatten, sollten plötzlich traumatisierte GIs versorgen. Da kam ihnen das auf den ersten Blick einfache Rorschach-System mit seinen zehn Bildern recht.

Schon bald verwendeten sie ein Diagnoseverfahren, das vor allem an Schizophrenen, Epileptikern und geistig Behinderten entwickelt worden war, als allgemeinen Eignungstest in der Armee: Die Kleckse wurden an die Wand projiziert, und die Rekruten machten Kreuze in einer Multiple Choice-Version des Tests.

Erste Zweifel kamen auf, als der Rorschachtest nach einer Anonymisierung dabei versagte, Psychiatrie-Patienten von Piloten zu unterscheiden. Und analysierten zwei Rorschach-Experten dasselbe Testprotokoll, kamen sie häufig zu widersprüchlichen Diagnosen. Generell tendiere der Test dazu, einen Großteil seiner Teilnehmer zu pathologisieren, kritisierten immer mehr Fachleute.

Wiederbelegung des Rorschach-Tests

Der Psychologe Arthur Jensen formulierte den ätzenden Satz: "Der wissenschaftliche Fortschritt in der klinischen Psychologie lässt sich daran messen, wie schnell und wie gründlich sie den Rorschach loswird."

Doch dann sorgte der Psychologe John Exner 1969 für eine Wiederbelebung des Rorschach-Tests, zumindest in den USA. Er formalisierte den Test weiter, definierte Normen und Indizes für die unterschiedlichsten psychischen Störungen und Gutachten, angeblich auf der Grundlage umfassender empirischer Daten.

Beim modernen Rorschach geht es nun nicht allein um die inhaltlichen Assoziationen. Der testende Psychologe notiert vielmehr alle Äußerungen des Probanden, hält fest, ob dieser die Bildtafeln dreht und wie lange er für eine Antwort braucht. Wichtig ist, ob er sich nur mit Details des Tintenklecks beschäftigt oder mit dem Ganzen, ob er banale oder originelle Äußerungen macht - jede Regung trägt Bedeutung.

Tipps für den Rorschachtest

In den USA ist der Rorschach noch immer ein Test, der häufig mitentscheidet, ob ein Gewaltäter auf freien Fuß kommt, oder wer das Sorgerecht für ein Scheidungskind erhält. In den 1990er Jahren spielte er in 25 Prozent aller forensischen Diagnosen eine entscheidende Rolle.

Nach Zahlen von 2007 nutzen dort 80 Prozent der Gutachter in Familiensachen den Kleckstest, mit manchmal dramatischen Folgen. James Wood schildert in seinem Buch den Fall der Rose Martelli, die dummerweise in einem der Klecksbilder einen angebissenen Truthahn zu sehen glaubte.

Lieber Schmetterlinge als Geschlechtsmerkmale

Gar nicht gut, urteilte der Gutachter und sprach in dem Sorgerechtsprozess ihren Sohn Noah dem Vater zu. Der hatte zwar vier gescheiterte Ehen hinter sich, war gewalttätig, lebte unter falschem Namen und wurde des sexuellen Missbrauchs verdächtigt, aber brillierte im Rorschach.

Kein Wunder, dass in den USA die Selbsthilfeorganisation Sparc, die geschiedene Eltern in Sorgerechtsfragen vertritt, zu Vorsicht rät. Sie hatte bereits Jahre vor Wikipedia die Rorschach-Bilder mit den gängigen Interpretationen veröffentlicht und hält den Test von vornherein für unseriös.

Wenn er sich nicht umgehen lasse, dann solle man auf den Bildtafeln eben Schmetterlinge entdecken, Menschen, die sich die Hand halten und wogende Blätter; und eher nicht allzu viele primäre Geschlechtsmerkmale, und - bitte - unbedingt Sätze vermeiden wie: "Ich sehe, wie der Teufel das Gehirn eines Babys isst."

Im entspannten Deutschland hat man solche Probleme nicht. Soweit dort ein Psychoanalytiker überhaupt noch den Rorschachtest verwendet, dann meist als projektives Verfahren, um vorsichtig zu ergründen, wo es dem Patienten in der Seele drückt.

Es wäre deshalb schade, ganz auf ihn verzichten, meint Therapeut Rauchfleisch von der Universität Basel, einer der wenigen Wissenschaftler, der noch etwas Gutes am Rorschach finden kann. Aber auch er sagt: "Natürlich genügt der Test nicht den gängigen wissenschaftlichen Kriterien."

Noch kritischer ist der Psychologe Marcus Roth von der Universität Leipzig: "Der Test zeichnet sich durch eine geringe Objektivität aus." Je nach Auswerter würden die Deutungen der Testpersonen ganz unterschiedlich interpretiert - was der eine Psychologe ermittelt, findet der nächste fragwürdig und umgekehrt.

Transparenz als Bedrohung

"Seine Anwender betreiben eine Art von Deutungs- und Auslegungskunst anstelle empirischer Wissenschaft", sagt Roth. Und deshalb sei dem Deuter, also dem Analytiker, daran gelegen, seine Deutungen geheim zu halten. Nur deshalb werde Transparenz - wie jetzt von Wikipedia erzwungen - als Bedrohung erlebt.

Im Grunde sei der Test nichts weiter als ein Anachronismus, der auf der überkommenen Vorstellungen der Psychoanalyse beruhe, dass die Diagnose einer psychischen Störung die eigentliche Kunst sei.

Heutige Verhaltenstherapeuten dagegen vertrauten auf methodisch sauber entwickelte Tests und standardisierte Verhaltensbeobachtungen, mit denen sie seit langem besser fundierte Diagnosen erstellen könnten, um dann mit ihrer eigentlichen Aufgabe beginnen: der Behandlung des Patienten. Den Rorschach brauche niemand mehr.

Diese Einsicht ist nicht für alle eine gute Nachricht. Als vor wenigen Jahren der Hilfsarbeiter Cary Stayner wegen der Ermordung dreier Touristen im Yosemite National Park vor Gericht stand, plädierten seine Verteidiger auf pathologische Unzurechnungsfähigkeit.

Sie engagierten einen angesehenen Psychologen, der einen Rorschachtest an Stayner machte und ihm den maximalen Punktewert auf dem Psychotiker-Index bescheinigte. Doch in diesem Fall mochten die Richter dem Gutachter nicht folgen. Sie verurteilten Stayner zum Tode.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: