Psychologie:Ich bin unvergleichlich

Individualismus nimmt weltweit zu. Das lässt sich an der Scheidungsrate ablesen und an den Namen, die Eltern ihren Kindern geben.

Von Sebastian Herrmann

Wer auf der Suche nach einem Job mit besten Zukunftsaussichten ist, der sollte sich als Scheidungsanwalt mit internationaler Ausrichtung positionieren. In den meisten Gesellschaften weltweit ist nämlich der Individualismus auf dem Vormarsch - und wo das Ich stärker in den Vordergrund rückt, steigen individuelle Glücksansprüche, an denen eine Partnerschaft leicht scheitert. Tatsächlich handelt es sich bei steigenden Scheidungsraten um einen Indikator, an dem Wissenschaftler ablesen können, ob sich kollektivistische Gesellschaften in Richtung Individualismus entwickeln. Auch das Team um Henri Santos von der Universität Waterloo hat auf die Rate der Scheidungen geblickt.

Insgesamt haben die Psychologen Daten des World Values Survey aus 51 Jahren und 78 Ländern ausgewertet. Wie die Forscher in der Fachzeitschrift Psychological Science berichten, nimmt in beinahe allen Ländern individualistisches Verhalten zu. Lediglich in Kamerun, Malawi, Malaysia und Mali ist kollektivistisches Verhalten häufiger geworden. Kollektivistische Wertvorstellungen haben - unabhängig von tatsächlichem Verhalten - lediglich in Armenien, China, Kroatien, Uruguay und in der Ukraine zugenommen. In allen anderen untersuchten Ländern ist der Individualismus wichtiger geworden, auch in Deutschland.

In individualistisch geprägten Gesellschaften gelten Menschen als autonome Personen, die ihre Einzigartigkeit betonen und sich von anderen abheben. Das Gegenmodell sind Länder, die das Kollektiv betonen. Der Einzelne wird dort als Teil eines großen Ganzen betrachtet, in dem Regeln und Gehorsam im Vordergrund stehen. In solchen Gemeinschaften leben meist mehrere Generationen unter einem Dach. Die Familie spielt eine wichtigere Rolle als Freunde, und individuelle Glücksansprüche provozieren eher Verwunderung als Zustimmung.

Wo es um das nackte Überleben geht, steht das Kollektiv noch im Vordergrund

Dass Individualismus in den westlichen Wohlstandsländern seit Jahren auf dem Vormarsch ist, haben Forscher bereits in vielen Studien beobachtet. Ausdruck findet diese Entwicklung darin, dass etwa in den USA viele Menschen ein positiveres Bild von sich selbst haben als die Generationen vor ihnen. Als weiteres Indiz führen Wissenschaftler an, dass Eltern in den Industrieländern ihren Kindern zunehmend möglichst auffällige, im Idealfall einzigartige Namen geben - und sich Paare mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder scheiden. In Büchern, so haben Analysen ergeben, tauchen in diesen Gesellschaften immer häufiger Wörter wie "ich" oder "meins" auf.

"Die Daten zeigen, dass es sich um einen globalen Trend zu mehr Individualismus handelt", sagt Santos von der Universität Waterloo. Mit wachsendem Wohlstand löst sich das Individuum offenbar immer leichter aus dem Kollektiv. Dazu passe, dass es sich bei den vier Ländern, die sich hin zu mehr kollektivistischem Verhalten entwickelt haben, um Staaten handelt, deren sozioökonomische Entwicklung im Untersuchungszeitraum unterdurchschnittlich gewesen sei, so die Forscher. Für ihre Erhebung haben die Wissenschaftler unter anderem die Haushaltsgröße, den Anteil der alleine lebenden Einwohner und die Scheidungsrate ausgewertet. Auch die Häufigkeit von Naturkatastrophen, die Verbreitung gefährlicher Infektionskrankheiten sowie extreme klimatische Verhältnisse sorgen dafür, dass Gesellschaften eher auf das Kollektiv setzen. Wo es also ums nackte Überleben geht, hilft nur die Existenz als Gruppenmitglied; wo die gröbsten Probleme gelöst sind, kann sich das Individuum austoben und sich unglücklich machen, indem es noch glücklicher werden will.

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