Psychologie:Die Intelligenz der Masse

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Der Publikumsjoker bei "Wer wird Millionär?" beweist es: In der Gruppe sind Menschen schlauer als jeder Experte - so lässt sich sogar die Zukunft vorhersagen.

Sebastian Herrmann

Hoffnung bestand am Anfang eigentlich nicht. Das Gebiet, in dem die USS Scorpion auf dem Grund des Atlantiks verschollen war, erstreckte sich über hunderte Seemeilen. Die Bergungsschiffe durchsuchten im Mai 1968 tagelang erfolglos die Tiefen des Ozeans. Bis ein Marineoffizier versuchte, das amerikanische U-Boot mithilfe einer ungewöhnlichen Methode aufzuspüren.

Dass der Publikums-Joker bei Günther Jauchs Quizsendung nur selten daneben liegt, lässt sich auch wissenschaftlich begründen. (Foto: Foto: dpa)

Mittelwert schlägt Einzeltipp

John Craven trommelte Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen zusammen und versorgte sie mit den spärlichen Daten, die es gab. Sie sollten unabhängig voneinander auf die Position der Scorpion wetten. Der Sieger war das Kollektiv: John Craven ließ den Mittelwert aller Ergebnisse errechnen und erhielt Koordinaten, die nur 200 Meter neben der Stelle lagen, an der das U-Boot später gefunden wurde.

Der Mittelwert aller Schätzungen war sogar präziser als der beste Einzeltipp. John Craven lieferte einen Beweis für ein Phänomen, das Psychologen und Soziologen derzeit fasziniert: Gerade im Kollektiv sind Menschen zu erstaunlichen Leistungen fähig.

In der Masse entfalte sich kollektive Intelligenz, ein einzelner Mensch sei dagegen keinesfalls ideal zur exakten Analyse geeignet, argumentiert James Surowiecki im Buch "Die Weisheit der Vielen". Es komme nur darauf an, das Wissen der Massen richtig zu organisieren, um die Exzellenz der Menge auch für den Alltag tauglich zu machen.

Jeder Einzelne steuert zur Erkenntnis bei

"Ein Einzelner kann ein Kreuzworträtsel besser entwerfen, aber eine Gruppe löst es schneller", sagt auch Dieter Frey, Professor für Sozialpsychologie an der Universität München. Das scheint nachvollziehbar: Jeder in der Gruppe kann einige Kenntnisse beisteuern, die andere nicht haben.

Doch wie meistert ein Kollektiv eine derart komplexe Aufgabe wie die Suche nach der USS Scorpion? Diese Leistung ist ein extremes Beispiel für ein Phänomen, das Psychologen intensiv beschäftigt hat, seit Kate Gordon mit einem Experiment das Interesse der Fachwelt weckte.

Über Jahrzehnte bestätigt

Die amerikanische Soziologin bat 200 Studenten, mehrere Gegenstände nach ihrem Gewicht zu ordnen; der Durchschnitt aller Einzelschätzungen war verblüffend genau. Das Resultat wurde in ähnlichen Versuchen über die Jahrzehnte bestätigt. Beseelte die Probanden ein spezieller Geist? Eine Frage, die sich Psychologen ernsthaft stellten.

Es habe Jahrzehnte gedauert, bis die Fachwelt schlichte Statistik als Wirkfaktor identifizierte, schreiben die Psychologen Jack Soll und Richard Larrick in einer aktuellen Studie für das Magazin Management Science. "Wir haben es vor allem mit einem mathematischen Phänomen zu tun, dem Prinzip des Mittelwerts", sagt Jack Soll, der an der Duke Universität in Durham, North Carolina forscht.

Versucht eine Gruppe, ein Gewicht, eine Menge oder ähnliches zu schätzen, ist der gemittelte Durchschnitt mit hoher Wahrscheinlichkeit präziser als die Schätzung eines Einzelnen. Das gilt auch für zwei Menschen, wenn eine Bedingung erfüllt ist: Befindet sich der tatsächliche Wert zwischen den beiden Schätzwerten, liegt der gemittelte Wert wahrscheinlich näher am wirklichen Ergebnis als beide Einzelwerte.

Die Größe einer Gruppe wirkt als Korrektiv. Je mehr Menschen unabhängig voneinander etwas schätzen, desto breiter sind die einzelnen Tipps um das wahre Ergebnis herum gestreut. Der gemittelte Durchschnitt einer großen Gruppe sollte deshalb eine sehr gute Näherung darstellen.

Homogenität gleicht Inzucht

Es sei also sehr wahrscheinlich, nicht aber zwangsläufig so, dass eine Menge genauere Ergebnisse erzielt als ein Einzelner, sagt Jack Soll. Die Intelligenz der Masse funktioniert jedoch nur, wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind. Es reicht nämlich nicht, eine Hand voll Menschen in einen Raum einzusperren und sie mit einem komplexen Problem allein zu lassen.

"Eine Gruppe muss möglichst heterogen aufgebaut sein", sagt Dieter Frey. Denn hätten alle Mitglieder ähnliches Wissen und würden auf die gleiche Weise denken, entstünde ein "Group-Thinking-Phänomen". Das Kollektiv würde Informationen auf Kosten des Ergebnisses schlicht ausblenden. "Homogenität in einer Gruppe gleicht einer Art Inzucht. Die Einzelnen tragen in solchen Fällen wenig zu einer Lösung bei", erklärt Dieter Frey.

Vor allem Märkte bieten diese Vielfalt an Akteuren, an Meinungen, Denkweisen und Wissen, argumentiert James Surowiecki in seinem Buch. Nur so habe die Reaktion der amerikanischen Börse zustande kommen können, als 1986 die Raumfähre Challenger verunglückte.

Der Markt - eine große Gruppe Menschen - hatte damals wenige Stunden nach der Explosion der Raumfähre sein Urteil gefällt: Der Aktienwert der Firma Morton Thiokol, Hersteller der Trägerrakete, fiel dramatisch. Die Anteilsscheine der übrigen drei Unternehmen, die maßgeblich am Projekt Challenger beteiligt waren, verbilligten sich dagegen nur mäßig.

Der Markt lag richtig

Insiderhandel war auszuschließen, wie die US-Ökonomen Michael Maloney und Harold Mulherin in einer detaillierten Studie belegten. Stattdessen interpretierte die große heterogene Menge an Marktteilnehmern die spärlichen Nachrichten, die allmählich über den Ticker liefen. Diese reicherten sie mit dem an, was sie schon vor dem Unglück über die Firmen, das Shuttle-Programm und andere relevante Faktoren erfahren hatten. Der Kurs der Thiokol-Aktien spiegelte die gemittelte Schätzung aller wider.

Und tatsächlich lag der Markt richtig: Sechs Monate nach dem Unglück bestätigte eine Kommission, dass von Thiokol stammende, defekte Dichtungsringe der Rakete die Unglücksursache waren.

Die Sozialwissenschaft hat einen weiteren Faktor identifiziert, der die Entscheidungen einer Gruppe nachhaltig prägt: Hierarchie. Das Wort des Chefs hat in einer Runde mehr Gewicht als das eines Angestellten. "Ober sticht Unter", sagt Dieter Frey. Starke Hierarchien sind ein Grund für Gruppen-Fehlverhalten.

So hatte sich Linda Ham, Leiterin des Bodenkontrollteams für die Mission der Columbia im Jahr 2003, früh darauf festgelegt, dass die Schäden, die beim Start am Flügel der Raumfähre entstanden waren, harmlos seien. Kritische Meinungen wurden unterdrückt, das ganze Team gab eine gravierende Fehleinschätzung ab, die Columbia verglühte beim Wiedereintritt in die Atmosphäre.

Abweichende Meinung muss toleriert werden

Dieses Beispiel zeigt: Gruppenmitglieder müssen sich unabhängig entscheiden können. Unabhängig sowohl von Vorgesetzten als auch von einer vorherrschenden Meinung des Kollektivs. Eine Gruppe muss abweichende Meinungen und individuelle Entscheidungen zulassen - sagen die Psychologen. Daran hapert es jedoch schnell, wie ein klassisches Experiment der Verhaltenspsychologie zeigt.

Solomon Asch ließ in den fünfziger Jahren jeweils sieben Probanden schätzen, welche von drei gezeichneten Linien die längste sei. Jeder sollte nacheinander laut seine Antwort sagen, eine banale Aufgabe.

Dann instruierte der US-Psychologe die ersten sechs Probanden, sich auf eine offensichtlich falsche Lösung festzulegen. Darüber geriet der ahnungslose Siebte, der als letzter an der Reihe war, so unter Druck, dass er sich dem Fehlurteil meist anschloss.

Gruppenzwang neutralisieren

Wie kann man Gruppen von diesen Zwängen befreien? "Man muss sie dezentralisieren", sagt Jack Soll. Dann jedoch muss ein Mechanismus gefunden werden, alle Meinungen wieder zusammenzuführen, um das Prinzip des Mittelwerts anwenden zu können.

Dies funktioniert bei der Quizsendung "Wer wird Millionär?" ziemlich gut. Wenn ein Kandidat das Publikum bei einer Frage um Rat bittet, können sich die Zuschauer nicht absprechen. Sie geben per Knopfdruck ihre Meinung ab - meistens stimmt diese auch. Die Gruppe funktioniert hier als heterogenes, hierarchieloses und dezentrales Kollektiv.

Unter ähnlichen Bedingungen interpretierten Börsianer die Challenger-Katastrophe. Diese Prophetie des Marktes ließe sich für Entscheidungen in Politik oder Wirtschaft nutzen, argumentiert Robin Hanson. "Ideen lassen sich am besten an Wettbörsen überprüfen", sagt der Wirtschaftswissenschaftler von der George Mason Universität in Fairfax, Virginia.

Solche Entscheidungsmärkte erfüllen die Voraussetzungen für eine schlaue Menge: Wie an der Börse handeln die Beteiligten, bloß mit Anteilen an der Marktchance einer Idee oder am Ausgang eines Ereignisses.

Entscheidungsmärkte statt Wahlforschung?

An den Iowa Electronic Markets (IEM) oder bei Anbietern wie Tradesports verrät der Preis eines Anteils, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ereignis eintritt. Mit oft präzisen Ergebnissen: Die IEM sagten exakt die 48 Prozent Stammanteil voraus, mit denen George Bush 2000 zum US-Präsidenten gewählt wurde. Bei der Wahl 2004 stimmten die Prognosen bei Tradesports genau mit dem jeweiligen Ausgang in allen 50 US-Bundestaaten überein.

Für Robin Hanson sind diese Entscheidungsmärkte auch der herkömmlichen Marktforschung überlegen: "Weil man Geld investiert, denken die Teilnehmer genauer nach." Die Gruppe ist heterogen, aber das Regulativ Geld als Einsatz verhindere, "dass einfach jeder zu allem eine Meinung äußert, auch wenn er überhaupt keine Ahnung von etwas hat."

So wächst die Qualität der einzelnen Wette. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass der Durchschnitt die Wahrheit erkennt. Und der Durchschnitt ist der wahre Experte, manchmal sogar genial. Man muss ihn nur richtig fragen und ihm vertrauen.

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