Psychologie des Heimvorteils:Warum Jamaika nicht beim Bobfahren gewinnt

OLYMPIA 2002 BOB JAMAIKA 1

Bobsport aus Jamaika, hier in Salt Lake City 2002

(Foto: DPA/DPAWEB)

Wieso sind Sportler in der Heimat so viel besser? Forscher haben die Psychologie des Heimvorteils ergründet - und erklären, wie Außenseiter in Sotschi trotzdem gewinnen können.

Von Christian Weber

Vermutlich werden Winston Watt und Marvin Dixon, das Zweier-Bob-Team aus Jamaika, auch bei den diesjährigen Olympischen Winterspielen in Sotschi keine Medaille gewinnen. Über die Gründe lässt sich viel spekulieren, doch eine Ursache ist aus Sicht der modernen Sportwissenschaft offenkundig: Mangels eigener Schneeberge in der Karibik werden Skifahrer, Rodler und Eiskunstläufer aus tropischen Gefilden niemals in den Genuss eines Heimvorteils kommen.

Dabei ist dieser vielleicht noch wichtiger, als man bislang gedacht hat, schreiben Mark Allen von der London South Bank University und Marc Jones von der Staffordshire University in einem Überblicksartikel in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Current Directions in Psychological Science (Bd. 23, S. 48, 2014). Sie tippen - Überraschung - auf große Erfolge der russischen Wintersportler.

Sogar beim Turmspringen wirkt der Heimvorteil

Die beiden Forscher sichteten zuerst die einschlägige Literatur der letzten Jahre und fanden empirisch bestätigt, was Fans und Sportjournalisten schon immer vermutet haben: In eins-zu-eins-Wettkämpfen gewinnt das heimische Team rund 60 Prozent aller Matches. Zwar gibt es je nach Sportart unterschiedlich starke Effekte, aber - so schreiben Allen und Jones: "Es gibt keinen einzigen Sport, bei dem Athleten oder Teams erfolgreicher sind, wenn sie fern ihrer heimischen Sportstätte antreten."

Eine aktuelle Studie der Pennsylvania State University konnte einen Heimvorteil sogar beim Turmspringen, in der Gymnastik und beim Kunsteislauf nachweisen. Besonders stark aber ist der Effekt in Mannschaftssportarten wie dem Fußball. Für die Saison 2007/2008 etwa zeigt die Statistik der deutschen Bundesliga 46,7 Prozent Heimsiege gegenüber 27,8 Prozent Auswärtssiegen.

Schon weniger klar ist, was der genaue Grund für den stärkeren Auftritt von Sportlern in der Heimat ist. In ihrem Artikel plädieren Allen und Jones deshalb für einen umfassenden Erklärungsansatz, der viele verschiedene Faktoren berücksichtigt. Zum einen diskutieren die Autoren das sogenannte Standardmodell der Sportwissenschaft. Diesem Ansatz zufolge stärken vor allem psychologische Faktoren das Selbstvertrauen der Sportler und Spieler: Wenn die einheimischen Fans mit ihrem Getöse das Stadion dominieren, stärkt das natürlich die Zuversicht der Spieler. Auch das vertraute Gelände wirkt dieser Theorie zufolge unterstützend.

Wer brüllt, kriegt recht

Doch der Einfluss der Geräuschkulisse geht noch weiter, wie die Sportwissenschaftler Christian Unkelbach von der Universität Heidelberg und Daniel Memmert von der Deutschen Sporthochschule Köln bereits 2010 zeigten. Sie analysierten in 1530 Bundesligaspielen den Zusammenhang von Zuschauerlärm und Schiedsrichterentscheidungen. Ergebnis: Bei großem Gebrüll, etwa nach einem Foul, werden mehr gelbe Karten gegen das Auswärtsteam gegeben, nicht aber gegen das Heimteam. Offenbar lassen sich die Schiedsrichter unbewusst von der Akustik beeinflussen: Wer brüllt, kriegt recht.

Lange bekannt, aber wohl unterschätzt, sind die körperlichen Leistungseinbußen durch lange Reisen. Chris Goumas von der University of Sydney berichtete im vergangenen Monat von seinen Analysen, wonach der Heimvorteil mit jeder Zeitzone, die das Auswärtsteam für die Anreise durchquert, um bis zu 20 Prozent wächst. Besonders stark ist der Effekt bei Reisen in östliche Richtung.

Mehr Testosteron daheim

Solche traditionellen Erklärungen für den Heimvorteil müssen nach Ansicht von Mark Allen und Marc Jones nun auch um Aspekte der evolutionären Psychologie erweitert werden: Wenn wilde Schimpansen und Mäuse im Labor ein ausgeprägtes Territorialverhalten zeigen, müsse dies bei Sportlern ganz ähnlich sein. Die Wissenschaftler plädieren deshalb für das sogenannte Territorial-Modell. Dieses "sieht den Heimvorteil als einen Ausdruck des natürlichen Schutzreflexes gegenüber Gebietsverletzungen". Tatsächlich konnten in den letzten Jahren mehrere Forschungsgruppen zeigen, dass Fußballspieler und Eishockeyspieler bei Heimspielen deutlich mehr Testosteron im Blut haben als bei Auswärtsspielen - ganz so wie Schimpansen, wenn sie die Grenzen ihres Territoriums kontrollieren.

Manche Forscher vermuten, dass der höhere Testosteronspiegel die sportliche Leistungsfähigkeit steigert, weil er die Aggression und den Kampfeswillen stimuliert. Andere vermuten, dass mit dem Hormonanstieg die Bereitschaft für riskantes Verhalten steigt. Womöglich beschleunigt sich auch die Stoffwechselrate in den Muskeln und die Raumwahrnehmung steigt.

Ganz so sicher sei man sich über die Auswirkungen der Hormonschübe indes nicht, gestehen Allen und Jones - zumal ein zweites Hormon mitspielt: das Stresshormon Cortisol. Dessen Spiegel steige nämlich ebenfalls beim Heimauftritt. Es sei ein Hinweis darauf, dass sich viele Sportler in Gegenwart ihrer heimischen Fans auch besonders unter Druck fühlen, was sich in manchen Fällen zu einem Heimnachteil auswachsen könnte. Ein Beleg dafür wäre, wenn in Sotschi zwei völlig entspannte Jamaikaner den gestressten Lokalmatadoren mit ihrem Bob davonfahren.

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