Psychologie:Der Traum vom Aufstieg

China Daily Life - Construction

Hoch hinaus, wie die Wolkenkratzer: Soziale Ungleichheit macht die Chinesen glücklich, wenn sie eine Chance zum Aufstieg sehen. Ein Arbeiter in Peking.

(Foto: Kevin Frayer/Getty Images)

In China steigt die soziale Ungleichheit - und doch nimmt die Lebenszufriedenheit zu. Grund ist die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Von Sebastian Herrmann

Die Menschen ertragen die größten Ungerechtigkeiten, wenn sie nur an eine goldene Zukunft glauben. Hoffnung wirkt wie eine Droge: In China zeigt sie gar groteske Nebenwirkungen. In den Gegenden des Landes, wo die soziale Ungleichheit besonders ausgeprägt ist, liegt überraschenderweise auch die Lebenszufriedenheit der Bewohner besonders hoch. Wie passt das zusammen, widerspricht sich das nicht? Es ist die chinesische Variante des amerikanischen Traums: Jeder kann es schaffen! Wer daran glaubt, nimmt als armer Schlucker reiche Mitmenschen als Ansporn wahr. Doch der Effekt hat begrenzte Wirkung und kann nicht als Rechtfertigung für unfaire Bedingungen dienen.

Die verblüffende positive Auswirkung sozialer Ungleichheit in China dokumentiert der amerikanische Psychologe Felix Cheung von der Michigan State University in einer Studie im Fachblatt Social Psychological and Personality Science (Bd. 7, S. 320, 2016). Darin steckt der Forscher auch die Grenzen des Effektes ab: Soziale Ungleichheit fördert nämlich nur auf dem Land in den chinesischen Provinzen die Zufriedenheit, nicht aber in den Städten.

In den Kommunen dort gilt wohl, dass der neue Reichtum von Nachbarn und Mitbürgern die Hoffnung auf eigenes künftiges Glück nährt. In den Dörfern lebt der chinesische Traum; in den Städten des Landes löst er sich hingegen zusehends in Smog auf. Dort besteht laut den Daten kein Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit und dem Grad der sozialen Ungleichheit - weder positiv noch negativ. Man kann aber sagen: Die Stadtbewohner haben Illusionen verloren; der Erfolg der Mitmenschen befeuert ihren Traum vom Glück nicht mehr zwingend.

Für seine Arbeit wertete der Psychologe Cheung Daten von mehr als 30 000 Chinesen aus, die im Jahr 2012 für die China Family Panel Studies befragt wurden. Der Befund des Forschers bestätigt zunächst eine Arbeit der britischen Ökonomen um John Knight und Ramani Gunatilaka von der Universität Oxford, die bereits vor einigen Jahren beobachteten, dass steigende soziale Ungleichheit in China verblüffenderweise die durchschnittliche Lebenszufriedenheit förderte. Cheung kann nun erklären, warum das so ist.

Die Stadtbewohner haben ihre Illusionen verloren, der Erfolg anderer spornt sie weniger an

Soziale Ungleichheit, so viel ist aus anderen Studien klar, fördert die Neigung der Menschen, sich mit anderen zu vergleichen. Das hat Cheung mit seinem Kollegen Richard Lucas von der Michigan State University jüngst in einer weiteren Studie abermals gezeigt. Arme Menschen beäugen die Wohlhabenden, und die Wohlhabenden orientieren sich an den Reichen. In den ländlichen Gemeinschaften Chinas, so argumentiert Cheung in seiner Arbeit, sind die sozialen Unterschiede besonders deutlich sichtbar. Die Menschen sind sich näher, kennen sich besser, und wenn einer heraussticht, dann ist das deutlicher sichtbar als in der Stadt. Da die wirtschaftliche Entwicklung in den Dörfern Chinas in der Regel noch nicht so weit ist wie in den Ballungszentren, ist auch der Werdegang der Wohlhabenden bekannt und nachvollziehbar: Sie haben sich womöglich aus der Armut befreit, in der die anderen noch stecken. Das nährt die Hoffnung, und diese fördere die Zufriedenheit, so Cheung.

In den Städten flache das Wirtschaftswachstum hingegen auf einem höheren Niveau langsam ab. Das Fortkommen Einzelner lässt sich zum einen nicht mehr so leicht nachvollziehen, zum anderen werden den Hungerleidern dort unendlich mehr Menschen vor Augen geführt, die es scheinbar geschafft haben, während sie selbst noch darben. Das mindere die Hoffnung und die Lebenszufriedenheit.

Im Zuge des gigantischen Wachstums der chinesischen Wirtschaft hat der Grad der sozialen Ungleichheit dort auch extrem zugenommen. Quantifiziert wird das Phänomen mithilfe des sogenannten Gini-Koeffizienten: Liegt dieser bei einem Wert von null, besitzen alle Mitglieder einer Gesellschaft exakt gleich viel; bei einem Wert von eins herrscht hingegen extreme soziale Ungleichheit. In diesem Falle besäße einer alles und alle anderen nichts. Im Jahr 2012 lag der Gini-Koeffizient für China bei einem Wert von etwa 0,55. Vermögen waren damit in dem Land weniger gleich verteilt als etwa in den USA (0,45), das gemeinhin als Industriestaat mit besonderer sozialer Ungleichheit gilt.

China holt auf, in jeglicher Hinsicht: In den USA mindert soziale Ungleichheit laut Studien die Lebenszufriedenheit und erodiert Vertrauen in die Gesellschaft. Das wird wohl auch in China eintreten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: