Psychologie:Der Fluch des guten Gedächtnisses

Lauer Frühlingsabend in Leipzig

Alles schon mal gesehen: Wer sich intensiv erinnert, hat weniger Lust, Erfahrungen zu wiederholen.

(Foto: dpa)

Wer sich besonders detailliert an seine Erlebnisse erinnert, ist schneller gesättigt und träge.

Von Sebastian Herrmann

Im Leben dreht sich alles um die Momente. Es geht um Erlebnisse, um Erfahrungen und Erinnerungen und nicht darum, wie viel Besitz jemand anhäuft. Doch auch diese Binsenweisheit hat ihre Tücken. Wenn nämlich die Erinnerung an ein Erlebnis besonders detailliert ist, dann sinkt die Lust, ähnliche Erfahrungen zu wiederholen. Das zeigen die Sozialwissenschaftler Noelle Nelson von der Universität von Kansas und Joseph Redden von der Universität von Minnesota in einer Studie, die sie im Journal of Consumer Research veröffentlicht haben. Demnach verlieren Menschen mit einem besonders guten Kurzzeitgedächtnis nämlich auch besonders schnell die Lust, eine an sich angenehme Erfahrung zu wiederholen. Bei ihnen setzt gewissermaßen schneller das Sättigungsgefühl ein, egal ob sie nun zum Beispiel Schokolade essen oder Kunstwerke in einem Museum ansehen.

Amnesie-Patienten essen manchmal, ohne ein Gefühl der Sättigung zu spüren

Man könnte es den Fluch des guten Gedächtnisses nennen. Warum das so ist? Wer ein gutes Kurzeitgedächtnis hat, der erinnert sich an mehr Details einer eben gemachten Erfahrung und verarbeitet sie gewissermaßen intensiver. Das wiederum erzeuge die Illusion, mehr erlebt beziehungsweise eine Erfahrung häufiger gemacht zu haben, als das tatsächlich der Fall war, argumentiert Nelson. "Das führt dazu, dass Menschen mit einem guten Kurzzeitgedächtnis schneller die Lust an Dingen verlieren können."

Ihre These untermauern die beiden Wissenschaftler mit Ergebnissen aus vier Versuchen mit mehreren Hundert Teilnehmern. In allen Experimenten testeten die Forscher das Arbeitsgedächtnis der Probanden mit verschiedenen Methoden. Dann mussten die Teilnehmer immer wieder die gleichen Kunstwerke betrachten, oder 30-sekündige Schnipsel aus ihren Lieblingsliedern anhören und bewerten, wie angenehm sie diese Erfahrung fanden.

Wenig überraschend sinkt die Begeisterung, wenn immer wieder der gleiche Kram auftaucht - auch Schokolade wird schließlich nach spätestens der dritten Tafel in Folge unerträglich. Besonders rasch schrumpfte der erlebte Genuss jedoch bei jenen, die zuvor in den Gedächtnistests gut abgeschnitten hatten. In einem weiteren Versuch verglichen die Forscher Probanden, die aufgerufen waren, sich alle Details eines Kunstwerkes einzuprägen, mit solchen, die weiterhin beiläufig auf die Bilder blickten. Die intensive Auseinandersetzung mit den Gemälden verankerte diese stärker im Gedächtnis und trübte den damit verbundenen Genuss ebenso ein wie ein generell gutes Kurzzeitgedächtnis.

Aus der Forschungsliteratur sind zahlreiche Befunde bekannt, die Hinweise darauf geben, wie kognitive Prozesse das Sättigungsgefühl steuern können. Der Psychologe Paul Rozin berichtete zum Beispiel in einer Studie, dass Amnesie-Patienten teilweise nicht aufhören zu essen. Weil sie sich an ihre Mahlzeiten nicht erinnern können, setzt offenbar auch kaum ein Sättigungsgefühl ein. Andere Studien haben beobachtet, dass Ablenkung zum Beispiel durch den Fernseher dazu führt, dass man mehr Snacks in sich hineinschaufelt. Wer nebenher futtert, erinnert sich kaum mehr an den letzten Bissen - überspitzt formuliert. Bewusst zu essen, sorgt hingegen entsprechend schneller für ein Sättigungsgefühl, die Erfahrung prägt sich stärker ein.

Die Betreiber von Supermärkten, so die Autoren, sollten also für viel Ablenkung sorgen. Denn wenn die Kunden unachtsam sind, verlieren sie nicht so rasch die Lust am Shoppen. Wenn sie sich nicht so exakt erinnern, dann kommen und kaufen sie wieder.

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