Psychiatrie:Der verirrte Blick in die Seele

Kaum ein Fach ist so anfällig für Fehldiagnosen wie die Psychiatrie - Ärzte und Psychologen brauchen eine kritischere Selbstkontrolle.

Klaus Koch

Margret O. wusste, dass sie psychisch krank war. Schließlich ist sie selbst Psychiaterin. Dutzende manische Patienten hatte die Ärztin schon behandelt. Doch als sie selbst während einer manischen Episode in eine Klinik ging, änderte sich ihr Blick auf den eigenen Beruf drastisch.

"Es war ein Schlüsselerlebnis, wie die Ärzte reagierten, als ich mich weigerte, ein Medikament einzunehmen", erinnert sie sich. Wenn sie das Mittel nicht freiwillig nehmen würde, würden Pfleger sie auf ein Bett schnallen und ihr die Tabletten herunterzwingen. "Bis zu dieser Drohung hatte ich mich einigermaßen im Griff, aber da bin ich in Wut geraten", erinnert sich Margret O.

Gewalt als Druckmittel

Gewalt gehört auch heute noch zu den Druckmitteln der Psychiatrie. Patienten mit Depressionen, Panikattacken oder Schizophrenie kommen nicht immer freiwillig in eine Klinik, viele werden auf Druck der Familie oder von der Polizei eingeliefert.

624.000 Personen wurden im Jahr 2003 in deutschen Nervenkliniken behandelt, die 370.000 Einweisungen wegen Alkohols und anderer Drogen nicht mitgerechnet.

Die meisten Patienten fügen sich den Ratschlägen der Ärzte und werden nach Tagen oder Wochen stabil entlassen. Wer sich nicht fügt, gerät leicht in einen Teufelskreis: Nervenärzte sind oft dermaßen von der Richtigkeit ihrer Diagnose überzeugt, dass sie in der Gegenwehr eines Patienten einen Beweis für dessen Geisteskrankheit sehen.

Das Problem: Meist haben die Ärzte Recht. Aber eben nicht immer. Manchmal hat ein Patient allen Grund, sich zu wehren, weil die Diagnose falsch ist. "Fehldiagnosen sind in der Psychiatrie ein häufiges Phänomen", sagt der Psychologe Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden. "Sie dürften deutlich häufiger sein als in anderen Fächern."

Während Chirurgen, Internisten und Hausärzte aber neuerdings Fehlermeldesysteme etablieren, fehlen solche Initiativen in der Psychiatrie. Auf die Frage, wie oft sich Ärzte und Psychologen irren, wenn sie die Seele eines Menschen beurteilen, kann kein Experte eine Antwort geben.

Die Folge ist, dass spektakuläre Fälle die Wahrnehmung prägen. Fälle, in denen Fehldiagnosen ein Leben zerstört haben - wie das von Vera Stein. Die 45-Jährige war 1974 im Alter von Vierzehn von ihrem Vater eingewiesen worden.

Sechs Jahre lang wurde sie in Kliniken als "schizophren" festgehalten und mit Medikamenten ruhig gestellt. Erst 1980 stellte sich heraus: Vera Stein war gesund. Erst im vergangenen Juni hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Deutschland zu einer Entschädigung von 75.000 Euro verurteilt.

Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener kennt zahlreiche Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Ihr gemeinsamer Vorwurf: Alltäglich würden Gesunde aufgrund oberflächlicher und falscher Diagnosen als psychisch krank stigmatisiert, in einer Klinik ruhig gestellt und ihrer Rechte beraubt.

Entspricht diese Einschätzung der Realität oder zeichnet hier eine kleine Gruppe Betroffener ein allzu düsteres Bild? Dass Gesunde unberechtigt zu Geisteskranken erklärt würden, sei "selten", meint Wolfgang Maier, Psychiater an der Universität Bonn: "Das häufigere Problem ist der umgekehrte Fall."

Psychische Krankheiten würden oft übersehen - das gelte vor allem für die Massenerkrankung Depression. Dieses Manko sieht auch der Schizophrenie-Spezialist Wolfgang Gaebel. "Aber beide Fehler - das Zuviel und das Zuwenig in der Diagnose - schließen einander keineswegs aus", so der Psychiater von der Universität Düsseldorf.

Zwangsläufig subjektiv

Gaebel hält Fehldiagnosen für ein tiefsitzendes Problem in der Psychiatrie. Denn während sich körperliche Krankheiten objektiv messen lassen, sind Seelenärzte auf ihren persönlichen Eindruck angewiesen. "Einen Knochenbruch erkennt man auf einem Röntgenbild und Diabetes am Blutzuckerspiegel", sagt Gaebel. Psychische Störungen aber müssten vor allem durch Beobachten und Zuhören erkannt werden.

Zwar suchen auch Nervenärzte nach messbaren Änderungen der Hirnströme, der Hirnstruktur oder der Hirnchemie; doch die helfen nur in Ausnahmen.

"Psychiater haben im Wesentlichen die Reaktionen und Antworten des Patienten zur Verfügung", sagt Gaebel. Ein Arzt muss nicht nur die richtigen Fragen stellen, der Patient muss auch beschreiben, was ihm zugestoßen ist und was er fühlt. "Aber nicht jeder Patient kann das", sagt Gaebel.

Bis in die 70er-Jahre hat die Frage, wie zuverlässig eine psychiatrische Diagnose ist, das Fach verunsichert. Ende der 60er-Jahre war das Misstrauen so groß, dass einige Fachleute forderten, auf feste Diagnosen ganz zu verzichten.

Zu ihnen gehörte David Rosenhan, Professor für Psychologie in Stanford. Das nach ihm benannte Rosenhan-Experiment gilt bis heute als Warnung: Zwischen 1968 und 1972 hatten Rosenhan und sieben gesunde Studenten sich in psychiatrischen Kliniken vorgestellt, wo sie behaupteten, Stimmen gehört zu haben.

Obwohl die acht sich in der Klinik völlig normal benahmen, fiel keiner als Simulant auf; alle wurden erst nach drei bis acht Wochen mit der Diagnose "abgeklungene Schizophrenie" entlassen. Die Rate der Fehldiagnosen: 100 Prozent.

Ähnlich beunruhigend fiel eine andere Art von Selbsttest aus, dem sich 1962 der Amerikaner Aaron Beck mit vier Kollegen unterzogen hat. Jeweils zwei der fünf Psychiater untersuchten unabhängig voneinander 153 Patienten und verglichen ihre Ergebnisse. Bei jedem zweiten Patienten waren die Ärzte zu leicht unterschiedlichen Diagnosen gekommen; bei jedem fünften waren die Differenzen so groß, dass einer von beiden falsch liegen musste. Die Rate der Fehldiagnosen: mindestens 20 Prozent.

Andere Fragen - andere Antworten

Beck und seine Kollegen fanden aber auch heraus, warum sie zu so unterschiedlichen Schlüssen gekommen waren: Sie hatten ihren Patienten andere Fragen gestellt und somit andere Antworten erhalten. Diese Erkenntnis wurde zu einem Grundstein der modernen Seelenheilkunde.

In den vergangenen 45 Jahren haben Psychiater und Psychologen Vorschriften entwickelt, welche Fragen in welcher Reihenfolge zu stellen und wie die Antworten einzuordnen sind, um ein Bild des Patienten zu ergeben. Diese "strukturierten Interviews" und die abgeleiteten Diagnosen sind in Handbüchern nachzulesen, die regelmäßig aktualisiert werden.

Doch auch diese Krankheitskataloge haben das Problem der Fehldiagnosen nicht aus der Welt geschafft. "elbst bei sorgfältiger Anwendung kommt es je nach Störungsbild immer noch bei 20 bis 40 Prozent der Patienten zu einer Fehldiagnose", folgert Hans-Ulrich Wittchen aus früheren Analysen.

Schuld an der hohen Fehlerrate ist auch, dass die meisten Patienten mit psychischen Störungen Symptome zeigen, die sich verschiedenen Krankheiten zuordnen lassen.

Jeden Tag eine neue Diagnose

"Ein besonders kritisches Beispiel" ist für Wolfgang Maier die schwierige Abgrenzung einer Borderline-Störung von einer bipolaren Störung. "Die Unterscheidung erfordert eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Lebenslauf", sagt Maier. "Aber die unterbleibt im Klinikalltag oft."

Die Konsequenzen sind schwerwiegend. Denn die Borderline-Störung, bei der sich Menschen ohne Rücksicht auf soziale Folgen extrem verhalten, wird vorzugsweise psychotherapeutisch behandelt; die bipolare Störung mit ihren manischen und depressiven Phasen dagegen mit Medikamenten.

Auch aus einem weiteren Grund brauchen Psychiater für eine gute Diagnose viel Zeit: Zu einer psychischen Krankheit kommen im Laufe der Jahre oft weitere hinzu. Wenn ein Patient zum Beispiel eine Panikstörung nicht in den Griff bekommt, kann er zusätzlich eine Depression entwickeln und alkoholabhängig werden.

Vorsichtige Seelenärzte stellen ihre erste Diagnose deshalb nur vorläufig. Erst die intensive Betreuung des Patienten schafft die Basis, um den ersten Verdacht zu bestätigen, abzuwandeln - oder fallen zu lassen.

Doch dieses vorsichtige Herantasten braucht Zeit. Allein ein sorgfältiges Interview dauert leicht eine Stunde. Ein niedergelassener Arzt habe für einen Patienten aber "insgesamt nur 40 Minuten" pro Quartal, sagt Fritz Hohagen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Und an den Nervenkliniken herrscht Personalmangel.

"Oft muss ein Arzt dort am Tag 40 Patienten betreuen", sagt Wittchen. Die Folge ist, dass Diagnosen häufig aufgrund eines flüchtigen Eindrucks entstehen. "Ich schätze, dass weniger als jede 20. Diagnose auf strukturierten Interviews beruht", sagt Wittchen.

Margret O. hat die Folgen persönlich erlebt. "Innerhalb von zehn Wochen habe ich sechs verschiedene Diagnosen erhalten", sagt sie. Einige Ärzte hätten gar nicht mit ihr gesprochen, bevor sie ein neues Krankheitsbild benannten.

Eine Odyssee hat die 28-jährige Karin Z. durchgemacht. Die Liste von Krankheiten, die Mediziner seit ihrer Pubertät bei ihr feststellten, liest sich wie ein Psychiatrie-Lexikon: "Akute Psychose", "Autismus", "Anorexia nervosa", "Neurose", "Schizophrenie", "somatoforme Störung", "soziale Psychose", "tardive Akathisie" sowie vier verschiedene Persönlichkeitsstörungen wurden ihr attestiert.

Der Erfindungsreichtum riss erst ab, als Z. einen Arzt fand, der sie gründlich neu untersuchte - und "eine psychische Krankheit nicht feststellen" konnte. Nun will Karin Z. klagen: "Kein Arzt hat sich in Ruhe mit mir und meiner Lebensgeschichte auseinander gesetzt."

Ob solche Erlebnisse wirklich Raritäten sind, ließe sich durchaus feststellen. Wittchen hat gezeigt, wie sich psychiatrische Fehldiagnosen aufspüren lassen. Er verteilte einen gut erprobten Fragebogen zur Erkennung von Depressionen an 15.000 Menschen, die bei ihrem Hausarzt in Behandlung waren.

Die Antworten haben seine Mitarbeiter dann mit den Diagnosen der Hausärzte verglichen. Das Ergebnis: Die Hausärzte hatten bei jedem 11. Patienten "sicher und definitiv" eine Depression festgestellt, ohne dass der Fragebogen darauf einen Hinweis gab. 1300 der 15000 Patienten trugen das Etikett "depressiv" also zu Unrecht.

Doch die Seelenärzte haben eben nicht ihre eigene Arbeit unter die Lupe genommen, sondern nur die von Hausärzten. Dabei wäre eine ähnliche Überprüfung auch in psychiatrischen Praxen und Kliniken möglich. "So etwas", sagt Wittchen, "ist derzeit nicht in Sicht."

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