Antidepressiva:Medikamentenstudie vom Ghostwriter

Depression

Depression bei Jugendlichen: Zwei weit verbreitete Antidepressiva sind weder wirksam noch sicher.

(Foto: Jakob Berr)

Eine viel beachtete Studie preist zwei Antidepressiva für Jugendliche an. Jetzt zeigt eine erneute Analyse, dass die Mittel nicht helfen, aber starke Nebenwirkungen haben. Konsequenzen? Bisher keine.

Von Werner Bartens

Stimmt alles nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die beiden weitverbreiteten Antidepressiva, die besonders für Jugendliche gedacht waren, sind weder wirksam noch sicher. So könnte man zusammenfassen, was eine Aufarbeitung der Daten ergeben hat, die im aktuellen British Medical Journal (online) veröffentlicht wurde. In der einflussreichen Originalstudie, die 2001 erschienen ist und in der das Loblied auf die beiden Mittel gegen Schwermut angestimmt wurde, sind Daten verschwiegen, verzerrt und verfälscht worden. Millionen Jugendliche weltweit haben die ebenso nutzlosen wie schädlichen Medikamente seither genommen.

Das Pharmaunternehmen Glaxo-Smith-Kline (GSK) hatte - damals noch unter dem Namen Smith-Kline Beecham - die Studie finanziert, in der die beiden Antidepressiva Paroxetin und Imipramin untersucht wurden. Bei 275 Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren wurden die Medikamente mit einem Scheinpräparat verglichen. Die Ergebnisse erschienen im Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (JAACAP), dem angesehenen Fachmagazin der amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiater (Bd. 40, S. 762, 2001). Die Studienautoren um Martin Keller kamen seinerzeit zu dem Schluss, Paroxetin sei "generell gut verträglich und wirksam".

Die genaue Analyse der lange zurückgehaltenen Originaldaten, die GSK erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen portionsweise freigegeben hat, kommt jetzt zu einem gegenteiligen Ergebnis. Forscher aus Großbritannien und den USA um Joanna Le Noury zeigen, dass Paroxetin und Imipramin in der Behandlung einer schweren Depression nicht wirksamer als die Gabe eines Scheinpräparates sind und also allenfalls einen Placebo-Effekt auslösen.

Anders als die behauptete "gute Verträglichkeit" gingen beide Medikamente mit starken Nebenwirkungen einher. Paroxetin führte zu Verhaltensauffälligkeiten, Suizidneigung und anderen schweren Einschränkungen; Imipramin löste hauptsächlich Herzrhythmusstörungen aus. Fehlende Wirkung und unerwünschte Folgen der Behandlung tauchen in der Veröffentlichung 2001 jedoch gar nicht oder nur stark abgeschwächt auf.

Während das Autorenteam um Keller für Paroxetin 265 Fälle auflistet, in denen Nebenwirkungen auftraten, sind 481 unerwünschte Reaktionen in den insgesamt mehr als 70 000 Seiten an Aufzeichnungen und Protokollen der Studie von 2001 verzeichnet. Für Imipramin gab Keller 340 Zwischenfälle an, tatsächlich waren es 552.

Auch die Schwere der Nebenwirkungen wurde verschleiert. Massive Herzprobleme unter Imipramin spielten die Studienautoren herunter. Suizidgedanken und -versuche wurden als "emotionale Labilität" eingeordnet. "Die Daten aus den Fallberichten zu den einzelnen Patienten wurden nicht vollständig in Studienbögen übertragen - und das Team um Keller hat daraus wiederum nur lückenhaft die Daten übernommen", so die Autoren.

Auch auf mehrfache Anfrage reagieren Autoren, Fachverband und Universitäten nicht

"Keine Korrektur, keine Rücknahme der Veröffentlichung, keine Entschuldigung, kein Kommentar", listet Peter Doshi von der University of Maryland weitere Versäumnisse in dem Fall auf. "Wer übernimmt hier institutionell Verantwortung?", fragt der Wissenschaftler, der seinerzeit viel dazu beigetragen hat, dass die vom Pharmakonzern Roch zurückgehaltenen Daten zum Grippemittel Tamiflu zugänglich wurden. Schließlich seien im Jahr 2002 allein in den USA mehr als zwei Millionen Rezepte für Kinder und Jugendliche zur Behandlung mit Paroxetin ausgestellt worden.

Vorausgegangen war die PR-Kampagne von GSK, die den Antidepressiva "bemerkenswerte Wirksamkeit und Sicherheit" attestierte. Peter Doshi wundert sich, warum im Fall der Antidepressiva "weder die Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendpsychiater noch ihr Fachblatt noch die renommierte Brown University angemessen auf den Skandal reagieren". Etliche Anfragen von Doshi und dem British Medical Journal ließen die Studienautoren von 2001, der Herausgeber des JACCAP, die Kinder- und Jugendpsychiater und auch die Brown University unbeantwortet.

Dabei sind nicht erst mit der Re-Analyse Unstimmigkeiten um die Antidepressiva aufgetreten. Martin Keller, Autor der inkriminierten Studie und Psychiatrie-Chef an der Brown University, stand 1999 im Zentrum einer Kongress-Ermittlung, in der es um finanzielle Abhängigkeiten von Pharmafirmen ging. 2002 kam ein Mitarbeiter der US-Arzneibehörde FDA bereits zu dem Schluss, dass die Antidepressiva-Studie von Keller "als misslungen zu betrachten ist, weil keines der beiden Medikamente der Placebo-Behandlung überlegen war".

Außerdem wurde bekannt, dass kein Wissenschaftler, sondern ein von GSK angeheuerter Ghostwriter den Fachartikel von 2001 geschrieben hatte, unter den 22 Autoren ihren Namen setzten. 2012 wurde GSK zu drei Milliarden Dollar Strafe verurteilt, weil das Mittel wider besseres Wissen für den Gebrauch bei Kindern und Jugendlichen beworben wurde.

"Es heißt immer, dass sich die Wissenschaft selbst korrigiert", sagt Doshi. "Aber für all jene, die seit Jahren fordern, dass die Keller-Studie zurückgezogen wird, hat dieses System versagt." Für Fiona Godlee, die Herausgeberin des British Medical Journal, zeigt die Re-Analyse der Daten, "in welchem Ausmaß wir durch die Medikamentenkontrolle getäuscht werden können". Weder Ärzte noch Öffentlichkeit hätten unverfälschte Informationen, die nötig seien, um die besten Therapien, Tests und Entscheidungen für Patienten auszuwählen.

Besserung ungewiss: Eine Autorin der umstrittenen Studie wird bald Präsidentin des Fachverbandes

Daher müssten klinische Studien unabhängig von der Industrie gefördert werden und Gesetze gewährleisten, dass Fallberichte, Messergebnisse und andere Originaldaten zugänglich sind und von unabhängiger Seite eingesehen werden können. Zwar gelte es, den Datenschutz zu gewährleisten und Missbrauch durch andere Forscher zu verhindern. "Das ist teuer und aufwendig, aber langfristig lohnt es sich auf jeden Fall", schreibt David Henry im British Medical Journal.

Peter Doshi kann es kaum fassen, dass keiner der 22 Autoren der Keller-Studie, keiner der Herausgeber des Fachmagazins und auch keine der beteiligten Universitäten und Institute interveniert haben, um die fehlerhafte Veröffentlichung zu korrigieren. Disziplinarisch belangt wurde niemand. Doshi hofft, dass "die aktuelle Studie den Druck auf akademische und andere Institutionen erhöht, damit dieses vielfache Fehlverhalten weiter thematisiert wird und Folgen hat." Sicher ist das nicht. Designierte Präsidentin der amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiater ist Karen Wagner - eine Ko-Autorin der umstrittenen Keller-Studie von 2001.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: