SZ-Serie: Politik und Wissenschaft (4):Zielkonflikte benennen

Lesezeit: 4 min

Sachgerechte Politik ist ohne Wissenschaft nicht möglich. Und nur eine pragmatische Politikberatung bleibt glaubwürdig.

Ottmar Edenhofer

Sachgerechte Politik ist ohne Wissenschaft nicht möglich. Ohne Klimawissenschaft gäbe es keine Klimapolitik, ohne Ingenieurwissenschaft keine Energiepolitik, ohne Genetiker kein Embryonenschutzgesetz - der steigende Beratungsbedarf der Politik ist Ausdruck der Tatsache, dass Politik heute Gestaltungsaufgaben wahrnimmt, die in vormodernen Zeiten noch als Fügung und Schicksal galten.

Bereits Max Weber hat mit Sorge auf die dadurch entstehende Abhängigkeit des Parlamentes und der Regierung von den Experten hingewiesen. Der Entscheidungsspielraum der Politik verschwinde, weil die Politik nur noch Sachzwänge exekutiere, die sie in ihren Wirkungen kaum überblickt. Die Politik dankt ab, und die Experten übernehmen das Geschäft der Politik. Die technokratische Herrschaft der Experten zementiert das "Gehäuse der Hörigkeit". Woraus aber beziehen Forscher die Legitimation ihrer Herrschaft?

Die wissenschaftliche Kompetenz jedenfalls erlaubt es ihnen nicht, über Ziele, Werte und Lebensstile zu entscheiden. In moralischen Fragen können sie kein größeres Gewicht in die Waagschale werfen als Laien. Jeder, der in moralischen Fragen kompetent urteilen und argumentieren kann, ist in der Lage, darüber zu entscheiden, in welcher Gesellschaft er leben will und wie die Verantwortung auch gegenüber ungeborenem Leben oder künftigen Generationen eingelöst werden kann.

Max Weber hat daher ein zweites Modell vorgeschlagen, um das Verhältnis von Politik und Wissenschaft neu auszubalancieren - das dezionistische Modell. Danach sind Werte und Tatsachen strikt zu trennen. Der Politik kommt es demnach zu, über Werte und Ziele zu entscheiden, die Wissenschaft hat die Aufgabe, dafür angemessene Mittel zu finden. Damit soll die politische Anmaßung der Wissenschaft abgewehrt werden. Man hat die Wissenschaft nicht zu Unrecht als die fünfte Gewalt bezeichnet: Neben Legislative, Exekutive, Judikative und Medien soll auch die Macht der Wissenschaft durch Gewaltenteilung begrenzt und kontrolliert werden. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn sich Werte und Tatsachen strikt trennen lassen. Genau hier liegt jedoch das Problem.

Im dezisionistischen Modell ist die Aufgabe der Wissenschaft, die Rationalität von Zweck-Mittel-Zusammenhängen zu erforschen. Die Wissenschaft wäre eine Prüfanstalt für Argumente und gehörte ähnlich wie Materialprüfungsanstalten als Argumentprüfanstalt zur unverzichtbaren Infrastruktur moderner Gesellschaften. Aber gerade bei schwierigen Entscheidungsproblemen stellt sich heraus, dass Ziele nicht ein für alle mal fixiert werden können. So kann es sich erweisen, dass manche Mittel unerwünschte Nebenwirkungen entfalten.

Ein Beispiel aus der Klimapolitik: Von der Politik wurden aus guten Gründen ambitionierte klimapolitische Ziele formuliert, um einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Es ist dabei offensichtlich, dass die Klimawissenschaft über Klimafolgen informieren kann. Weniger offensichtlich ist, dass die Wahrnehmung dessen, was als Gefahr und Risiko gilt, auch von gesellschaftlichen Werten und Normen abhängt.

Wer das Ziel ambitionierten Klimaschutzes teilt, wird sich der Herausforderung stellen müssen, dass die Weltwirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts nahezu vollständig emissionsfrei sein muss. Nun hat die Wissenschaft in vielen ihrer Szenarien gezeigt, dass dieses Ziel nur dann zu geringen Kosten erreicht werden kann, wenn in erheblichem Maße Energie aus Biomasse genutzt wird. Allerdings steht diese Biomassenutzung in Konkurrenz zu einer kostengünstigen Nahrungsmittelversorgung. Außerdem besteht das reale Risiko, dass dadurch die Abholzung der Regenwälder zunimmt.

Klimaschutz, falsch angepackt, gerät also in Konflikt mit anderen Zielen der Nachhaltigkeit. Um diesen Zielkonflikt zu entschärfen, gibt es mehrere Wege: Man kann versuchen, die Energienachfrage durch Effizienzsteigerungen zu drosseln oder die Produktivität in der Landwirtschaft zu erhöhen. Erweisen sich diese Optionen als zu teuer oder zu risikoreich, kann man auch das Ziel drastischer Emissionsreduktion aufweichen.

Das bedeutet: Im Licht von Wirkungen und Nebenwirkungen müssen auch Ziele neu bewertet und neue Mittel gefunden werden, um tragische Zielkonflikte zu vermeiden oder zu entschärfen. Die Vorstellung, dass die Politik die Ziele einmal festlegt und die Wissenschaft dann die Mittel prüft, mit der diese Ziele am effizientesten erreicht werden, ist nicht haltbar. Um brauchbare Entscheidungsgrundlagen zu schaffen, müssen sich Wissenschaft und Politik auf einen Lernprozess einlassen, der nicht damit beginnt, dass die Politik die Ziele fixiert, und der auch nicht damit endet, dass die Wissenschaft die passenden Mittel findet. Nötig ist eine fortwährende Reflexion über Mittel und Ziele.

Ein neues Modell der Politikberatung muss her. In einem pragmatischen Modell der Politikberatung hätte die Wissenschaft die Aufgabe, die Politik darüber aufzuklären, welche gangbaren Wege es gibt, um Ziele zu erreichen. Dabei kann die Wissenschaft der Politik und der Gesellschaft die Abwägung von Zielen und Mitteln nicht abnehmen. Die Politik wird sich darauf einlassen müssen, dass sich das Wissen erweitert und sich manche Wege als Irrwege herausstellen werden. Dies ist Teil eines demokratischen Lernprozesses, der auf die Kraft vertraut, durch Versuch und Irrtum nachhaltige Lösungen zu finden.

In vielen Beratungsgremien wird aber versucht, schon auf der Ebene der Wissenschaft einen Konsens zu erreichen, um eine klare politische Empfehlung zu formulieren. Viele Wissenschaftler glauben, dass sie nur so in der Politik verstanden werden. Genau das ist aber falsch, denn es ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, Konsens über politische Ziele zu erzielen und Mehrheiten zu beschaffen. Das ist Aufgabe der Politik. Langfristig gefährdet die Wissenschaft damit ihre Legitimität in der Beratung der demokratischen Gesellschaft. Stattdessen muss sie Politik und Öffentlichkeit zumuten, dass ihre Antworten nicht eindeutig sind.

Wissenschaft bezieht ihre Stärke aus dem Streit um das bessere Argument, aus der Suche nach neuen Wegen. Wissenschaftler sollten diese Stärke nicht verleugnen, wenn sie die Politik beraten. Nur so kann die Wissenschaft überhaupt zu einem Frühwarnsystem für Risiken und Nebenwirkungen werden, aber auch neue Möglichkeiten aufzeigen. Die Wissenschaft muss sich dem Ansinnen der Politik verweigern, eindeutige Empfehlungen auf der Basis vermeintlicher Sachzwänge zu formulieren. Und die Politik sollte gerade gegenüber den Experten misstrauisch sein, die Empfehlungen abgeben, ohne das Wenn und Aber klar auf den Tisch zu legen.

Dieses pragmatische Modell der Politikberatung wäre auch für Wissenschaftler eine Befreiung. Sie müssten ihre Stärke nicht länger verstecken und sich in das Korsett eines politischen Konsenses zwingen lassen: Wissenschaftler könnten guten Gewissens politisch relevant sein, ohne sich als Ersatzpolitiker aufspielen zu müssen.

Der Autor ist Chef-Ökonom und Vizedirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Zugleich ist er Professor an der TU Berlin. Im Weltklimarat IPCC leitet er die Arbeitsgruppe zur Verminderung des Klimawandels.

© SZ vom 01.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: