Physik:Stephen Hawkings letzter Blick auf das All

Stephen Hawking

Stephen Hawking starb im März im Alter von 76 Jahren.

(Foto: dpa)
  • Ein posthum erschienener Fachaufsatz von Stephen Hawking findert derzeit große Beachtung.
  • Der Physiker beschäftigt sich darin mit Szenarien über die Vorgänge in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall.
  • Fachleute nennen die Arbeit "interessant", aber kein Vermächtnis.

Von Patrick Illinger

Mit großen Schlagzeilen wird derzeit in britischen und anderen Medien die "letzte Publikation" des Physikers Stephen Hawking gewürdigt - angeblich eine ultimative Theorie über die Entstehung des Universums. Tatsächlich hat der im März verstorbene Wissenschaftler kurz vor seinem Tod gemeinsam mit seinem belgischen Kollegen Thomas Hertog von der Katholischen Universität Löwen ein 13-seitiges Papier verfasst, das soeben im Journal of High Energy Physics veröffentlicht wurde. Die Arbeit befasst sich mit einer grundsätzlichen Frage rund um die Theorie des sogenannten "inflationären Universums".

In den 1980er Jahren unter anderem vom sowjetisch-russischen Physiker Andrei Linde angestoßen besagt diese Theorie, dass es Sekundenbruchteile nach dem Urknall zu einer unvorstellbar rasanten Ausdehnung des Universums kam, ein Aufblähen, das seinerseits nur winzige Sekundenbruchteile dauerte. Für die Theorie spricht, dass sie viele Rätsel des heutigen Universums erklären kann, zum Beispiel, warum Sterne und Galaxien insgesamt relativ gleichmäßig in Zeit und Raum verteilt sind. Aber die Idee des inflationären Universums hat auch Nachteile: Die Theorie Lindes verlangte die Entstehung sogenannter Multiversen, einer unendlichen Vielzahl von Universen, die wie Blasen aufpoppten, sich ausdehnten und in denen jeweils völlig andere physikalische Parameter und Gesetze gelten. Und: Diese Phase extremer Expansion musste auch wieder anhalten, sonst wäre das heute für uns Menschen sichtbare Universum nicht erklärbar.

Es könnte demnach heute neben dem uns Menschen bekannten Universum unendlich viele weitere Varianten von Universen geben, in denen zum Beispiel noch immer Dinosaurier über die Erde herrschen, oder gar keine Planeten entstanden sind. Die Vorstellung unendlich vieler Paralleluniversen in unendlich vielen Erscheinungsformen führt allerdings zu einer für Naturwissenschaftler schwer erträglichen Beliebigkeit. Auch gerät die Sache in Konflikt mit dem sogenannten anthropischen Prinzip, das die Frage aufwirft, inwieweit die menschliche Betrachtung des Universums unabhängig von dessen eigener Existenz gesehen werden kann. Aus all diesen Gründen war die Idee des inflationären Universums zwar in mancher Hinsicht attraktiv, aber anfänglich auch vergleichbar mit dem Poststrukturalismus in den Geisteswissenschaften: ein Verlust jeglicher konkreter Gewissheiten und Haltegriffe.

Seither wurden immer wieder Gründe und Mechanismen erdacht, die erstens verhindern, dass es unendlich viele Universen gibt, und die zweitens eine frühe Phase der Expansion auch wieder angehalten haben. Während zu Andrei Lindes Zeiten die Inflation sozusagen noch völlig ungebremst und mannigfaltig war, hat man inzwischen "Begrenzer" gefunden hat, also Gründe, warum nicht unendlich viele Universen unendlich lange inflationär blieben.

Auch im heute sichtbaren Universum rasen Sterne und Galaxien zwar auseinander, aber bei weitem nicht so schnell, wie es im inflationären Zustand der Fall war. In diese Scharte schlägt nun auch Stephen Hawkings angeblich letzter Aufsatz. Mit seinem Koautor schlägt er eine Möglichkeit vor, wie das Universum sozusagen aus seiner anfänglichen Phase wilder, exponentieller Expansion in einen zahmeren Zustand übergegangen ist, wie wir ihn heute beobachten. Letzteres nennen die Wissenschaftler den "Ausstieg" aus der Inflation. "Die exponentielle Ausdehnungsphase musste rasch beendet werden, damit sich das Universum, so wie wir es sehen, danach langsam ausdehnen kann", beschreibt es der Theoretische Physiker Dieter Lüst von der Universität München. Hawkings Betrachtung nennt Lüst "durchaus eine interessante Arbeit", aber als "Vermächtnis", wie es manche Medien nun darstellen, sehe er es nicht an.

Deutlicher äußert sich der Kölner Physiker und Experte für Quantengravitation, Claus Kiefer: "Die Arbeit ist eine Standardarbeit im Bereich der Theoretischen Physik, wie jedes Jahr Hunderte verfasst werden. Bei anderen Autoren würde nur der enge Kreis von Spezialisten Notiz nehmen. Die Arbeit ist interessant, aber spekulativ und ganz sicher nicht revolutionär."

Tatsächlich sei die allerletzte Arbeit Stephen Hawkings, so betont es Dieter Lüst, ein Papier, das Hawking zusammen mit Gordon Kane verfasst hat und das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde: Der Titel lautet "Should China build the great collider?". Darin sprechen sich Hawking und Kane vehement dafür aus, in China einen riesigen ringförmigen Teilchenbeschleuniger mit 100 Kilometer Umfang zu bauen. Das aufstrebende Land, so Hawking, könne von einem solchen Projekt nur profitieren und würde dank vertiefter Einblicke in Kosmologie und Teilchenphysik dauerhaft in die Geschichte eingehen für seine "glorreichen Leistungen".

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