Physik:Wenn die Naturgesetze verrückt spielen

Physik: "Supraflüssiges" Helium fließt an den Wänden des Behälters empor und tropft außen herab, wie Physiker schon 1963 in einem Film demonstrierten.

"Supraflüssiges" Helium fließt an den Wänden des Behälters empor und tropft außen herab, wie Physiker schon 1963 in einem Film demonstrierten.

(Foto: Leitner)
  • Bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt von minus 273 Grad Celsius zeigen manche Stoffe sehr seltsame Eigenschaften.
  • In einem Experiment konnte beispielsweise ein Stoff hergestellt werden, der sich zugleich wie eine Flüssigkeit und wie ein Festkörper verhält.
  • Dahinter steckt ein Phänomen, das als "Bose-Einstein-Kondensation" bezeichnet wird.

Von Marlene Weiß

Es gibt eine Welt, in der die Gesetze der Physik verrücktspielen. Darin gibt es Objekte, die zugleich fest und vollkommen flüssig sind. Massen bewegen sich rückwärts, wenn man ihnen einen Schubs nach vorne gibt. Flüssigkeiten fließen Wände empor. Kühlt man Materie in die Nähe des absoluten Nullpunkts bei minus 273 Grad Celsius, fangen Atome an, im Gleichtakt Quanten-Ballett zu tanzen. Was damit alles möglich ist, das fangen Physiker erst an zu erforschen.

"Wir sind einfach mal in eine Richtung gegangen, ohne genau zu wissen, was wir finden würden", sagt Tilman Esslinger von der ETH Zürich. In mühevoller Bastelarbeit hatten seine Kollegen und er in einer winzigen Spiegelkammer Rubidium-Atome nach und nach abgebremst; je langsamer die Partikel, desto kälter das Gas. Als die Probe fast den absoluten Temperatur-Nullpunkt erreicht hatte, bearbeiteten sie sie noch mit Lasern. Am Ende hatten sie ein bizarres Material hergestellt, über das sie kürzlich in Nature berichteten.

Einerseits war der winzige Atomtropfen flüssiger als jede normale Flüssigkeit. Könnte man mit dem Finger hineinfassen, würde er ohne jeden Widerstand hindurchgleiten. "Supraflüssig" nennen Physiker diesen Zustand, in dem zum Beispiel Helium von alleine Gefäßwände hochkriecht, weil keinerlei Zähigkeit es davon abhält. Andererseits aber war die Probe eindeutig ein Festkörper: Die Rubidium-Atome ordneten sich in festen Abständen an wie in einem Kristall. "Supra-Festkörper", heißt so ein fest-flüssiges Etwas in der Physik; es ist fast, als könne man durch Wände gehen. Bislang hatte man nur vermutet, dass so etwas existiert.

"Bose-Einstein-Kondensate sind schön, aber auch sehr seltsam"

Dahinter steht ein Phänomen namens "Bose-Einstein-Kondensation": Kühlt man Atome extrem stark ab, beginnen sie zuweilen, im perfekten Gleichtakt zu schwingen. Sie rücken dicht zusammen und benehmen sich, als wären sie nicht Hunderttausende Atome, sondern nur ein einziges. Und plötzlich werden Quanten-Effekte offen sichtbar, von denen sonst wenig zu merken ist. Die Physiker Satyendranath Bose und Albert Einstein haben das schon vor bald hundert Jahren vorhergesagt. Erst 1995 gelang es, so ein Kondensat im Labor herzustellen. Sechs Jahre später erhielten die Entdecker den Nobelpreis. Das ist nun auch schon wieder eine Weile her, aber noch immer können Physiker nicht genug bekommen von diesem Quanten-Zauberstoff. "Bose-Einstein-Kondensate sind schön, aber auch sehr seltsam", sagt Tilman Esslinger. "Seit mehr als 20 Jahren boomt das Gebiet, und es gibt noch immer so viele ganz neue Ergebnisse."

Normalerweise bewegen sich etwa Massen exakt in die Richtung, in die man sie schiebt. "Das ist es, was die meisten Dinge tun, an die wir gewöhnt sind", sagt Michael Forbes von der Washington State University. Doch in einem Experiment, von dem er und seine Kollegen jüngst in Physical Review Letters berichteten, lief es anders. Die Physiker hatten Rubidium-Atome zu einem Bose-Einstein-Kondensat verschmelzen lassen. Dann aber schraubten sie mit Lasern an der Quanten-Drehung der Atome herum. Und als Forbes und seine Kollegen das entstandene Kondensat freiließen, schienen die Partikel von einer unsichtbaren Wand abzuprallen. Obwohl die nachfolgenden Teilchen nach vorne drückten, trieb etwas sie nach hinten, dem Druck entgegen. "Negative Masse", heißt so etwas, und es ist so absurd, wie es klingt - eine Folge des seltsamen Zusammenspiels von Drehimpuls und Quanten-Kondensation. "Ich weiß noch nicht, wie der Effekt nützlich sein kann, aber es gibt eine echte Chance, dass jemand es herausfindet", sagt Forbes fröhlich.

Wird Wasserstoff in der Diamantpresse zu Metall? Möglich. Leider ist die Probe weg

Andere wollen die Kondensate für hochpräzise Messungen nutzen. Doch das geht nur im All, jenseits aller Störungen. Anfang des Jahres haben Forscher vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit Kollegen von mehreren Universitäten ein Bose-Einstein-Kondensat an Bord einer unbemannten Rakete im Weltraum erzeugt. "Normalerweise ist der Aufbau für die Erzeugung von so einem Kondensat raumfüllend, wir mussten es viel kleiner und robuster machen", sagt Stephan Seidel von der Universität Hannover, der an dem Projekt beteiligt ist.

Am Ende war das Labor nur etwa so groß wie ein Kühlschrank, und das Experiment glückte, so dass nach Hunden, Schimpansen und Menschen es nun auch ein Quantengas in den Weltraum geschafft hat. Für Seidel und seine Kollegen war der Flug aber nur eine Vorbereitung: Sie wollen mehrere Satelliten mit Bose-Einstein-Kondensaten in die Erdumlaufbahn schicken. Mit den synchronen Quanten-Schwingungen der Atome könnte man eines Tages winzige Abweichungen von der bisherigen Theorie der Gravitation registrieren. Wenn die Finanzierung klappt, soll als Nächstes ein Atom-Tiefkühlschrank auf die Raumstation ISS geschickt werden.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass eines der irren Quanten-Phänomene es sogar aus dem Labor in den irdischen Alltag schafft. Das versuchen derzeit mehrere Gruppen zu erreichen, indem sie Wasserstoff nicht nur eisigen Temperaturen, sondern zugleich unvorstellbar hohem Druck aussetzen, dem fast Fünfmillionenfachen des irdischen Luftdrucks. Bei diesen Extrembedingungen, so die Vorhersage, sollte Wasserstoff zu einem festen Metall werden und obendrein als Supraleiter elektrischen Strom ohne Verlust transportieren. Und das Beste: Das neue Material könnte seine Eigenschaften sogar bei Raumtemperatur und normalem Druck behalten - ähnlich wie Diamanten, die auch unter extremem Druck entstehen und dann bleiben, was sie sind. Von so einem Supraleiter träumen Ingenieure schon lange.

Umso größer war die Aufmerksamkeit, als im Januar Isaac Silvera und Ranga Dias von der Harvard University in Science berichteten, sie hätten es geschafft: Ihre winzige Wasserstoffprobe, eingeklemmt in einem Diamant-Schraubstock, sei zu einem Metall geworden - erkennbar daran, dass sie Licht stark reflektierte, wie sich das für ein Metall gehört. Viele Fachkollegen sind allerdings skeptisch und bezweifeln diese Messungen.

Überprüfen kann man es vorerst nicht: Irgendwann hat der Schraubstock unter dem Druck nachgegeben. Seither ist die wenige Tausendstel Millimeter große Probe verschwunden. "Wir haben gesucht, aber konnten sie nicht finden", schreibt Silvera per Mail. Jetzt gebe es zwei Möglichkeiten: Entweder sei der Wasserstoff doch wieder zu einem Gas geworden, als der Druck nachließ, und verdampft. Oder aber (unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich): Der einzige Raumtemperatur- Supraleiter der Welt liegt irgendwo in einer Ritze des Labors in Amerika herum. Man muss in der Welt der Extrembedingungen wirklich mit allem rechnen.

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