Phänomen Scheintod:Von der Angst, lebendig begraben zu werden

Lebendig begraben

Eine Illustration zu Edgar Allan Poes Geschichte "The Premature Burial" von Harry Clarke aus dem Jahre 1919.

(Foto: oh)

Brigthon Dama Zanthe erwachte plötzlich wieder zum Leben - auf seiner eigenen Beerdigung. Berichte wie dieser aus Simbabwe schüren unsere tiefsitzende Angst, lebendig begraben zu werden. Sollten wir unsere Särge vielleicht doch mit Glocken oder Belüftungssystemen ausstatten, wie es viele Menschen im 19. Jahrhundert getan haben?

Von Markus C. Schulte von Drach

"Mann von den Toten auferstanden" titelte kürzlich der Herald, Simbabwes größte Tageszeitung. Mit der Meldung sorgte das Blatt für einen kleinen internationalen Medienrummel.

Demnach lag Brigthon Dama Zanthe, nach schwerer Krankheit angeblich verstorben, während der Trauerfeier im offenen Sarg. Plötzlich bewegten sich seine Beine. Während etliche Trauergäste erschrocken flohen, riefen andere einen Krankenwagen. Im Hospital wurde der 34-Jährige versorgt - und kehrte nach zwei Tagen nach Hause zurück. "Ich fühle mich jetzt okay", sagte er der Zeitung nach seiner Rückkehr unter die Lebenden.

Die Aufregung, die solche Ereignisse auslösen, hängen wohl einerseits mit der alltäglichen, manchmal auch morbiden Lust am Außergewöhnlichen zusammen. Vermutlich steckt dahinter aber auch die tief sitzende Angst, es könnte einen selbst treffen. Eine Angst, die schon unsere Vorfahren intensiv beschäftigte, und die durch seltene, aber aufsehenerregende Fälle des sogenannten Lazarus-Phänomens auch in Deutschland genährt wird.

So hatte zum Beispiel 2009 ein Notarzt eine 89-Jährige in Nordhorn kalt und leblos in ihrer Wohnung vorgefunden und für tot erklärt. Die eigentliche Leichenschau wollte er später im Bestattungsunternehmen vornehmen. Als der Bestatter die angeblich Verstorbene versorgen wollte, stellte er allerdings Lebenszeichen fest. Da aufgrund einer Patientenverfügung keine lebenserhaltenden Maßnahmen eingeleitet werden durften, verstarb die Frau zwar tatsächlich - aber erst einige Tage später.

2002 hielt eine Ärztin eine 72-Jährige in einem Pflegeheim in Mettmann für tot - doch das Zeitliche segnete die todkranke Frau tragischerweise in der Kühlkammer des Bestatters. Bemerkt wurde dies nur deshalb, weil es eine Feuerbestattung geben sollte, für die eine zweite Leichenschau vorgeschrieben ist. Bei dieser stellte sich heraus, dass die Frau am Morgen noch nicht tot gewesen sein konnte. Und 1997 hielten Rettungssanitäter in Hamburg eine 52-Jährige nach einem Selbsttötungsversuch mit Tabletten für tot. Wieder war es ein Bestattungsunternehmen, das feststellte: Die Frau lebte noch. Und überlebte.

Alle diese Fälle, gingen offenbar auf massive Fehler der Ärzte oder Sanitäter zurück. Um einen Irrtum zu vermeiden, dürfen die Mediziner sich nämlich nicht auf unsichere Zeichen verlassen wie blasse Haut, geringe Körperwärme, Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand, fehlende Pupillenreaktion oder erschlaffte Muskulatur (Muskelatonie).

Vielmehr müssen bei der Leichenschau sichere Zeichen beobachtet werden. Dazu gehören Totenflecken, die sich etwa eine halbe Stunde nach dem Tode zu bilden beginnen, die Totenstarre, die nach zwei bis sechs Stunden eintritt, und schließlich Fäulnis. Unter bestimmten Umständen kann die Feststellung des Hirntodes dazukommen. Auf diese Weise lässt sich sicher vermeiden, Patienten, die sich in einem komatösen Zustand befinden - und bei denen sich zeitweilig keine Atmung, kein Herzschlag und keine Reflexe mehr feststellen lassen - irrtümlich für tot zu halten. Erst dann darf der offizielle Totenschein ausgefüllt werden.

Für Notärzte gilt, dass sie neben der Reanimation ein EKG vornehmen sollen, um die Herztätigkeit zu überprüfen. Bleibt diese längere Zeit aus - die Bundesärztekammer empfiehlt eine Dauer von 30 Minuten -, so werden Wiederbelegungsversuche abgebrochen und der Tod wird bescheinigt. Nach dieser Zeit dürften dann bald auch schon Totenflecken als sicheres Todeszeichen auftreten.

Bestatter-Humor: "Die schreien beim Verbrennen"

Beerdigt werden darf ein Toter in Deutschland unter normalen Umständen frühestens 48 Stunden nach der Todesfeststellung. Ist der Betroffene tatsächlich nur scheintot, ist es sehr wahrscheinlich, dass er entweder aufgrund ausbleibender Wiederbelebungsmaßnahmen vor der Beerdigung stirbt oder dass Lebenszeichen auftreten, die spätestens dem Bestatter auffallen. Und auch in diesen Fällen sterben die Wiederauferstandenen meist wenig später.

Dass in Deutschland ein Mensch zwei volle Tage scheintot ist und dann im Sarg wieder zu Bewusstsein kommt, kann deshalb wohl ausgeschlossen werden. Makabrer Humor und kein Erfahrungsbericht ist es auch, wenn im "Bestatter Weblog" zu lesen ist: "Der Mann vom hiesigen Krematorium beantwortet die Frage nach Scheintoten immer so: "Das ist kein Problem! Wir merken das immer, wenn einer scheintot ist, die schreien nämlich beim Verbrennen."

Was den Fall Brigthon Dama Zanthe in Simbabwe angeht, darf wohl vermutet werden, dass die Leichenschau - wenn es überhaupt eine gab - nur schlampig vorgenommen wurde.

Bis dahin, dass wir keine Angst mehr vor dem Scheintod und dem Erwachen im Sarg - oder wenigstens auf unserer Beerdigung - haben müssen, war es allerdings ein langer Weg. Denn in früheren Jahrhunderten dürfte es häufiger passiert sein, dass Menschen tatsächlich lebendig bestattet wurden - sei es in der Erde oder durch Feuer.

Herzstöße und Spezialsärge

Bereits Plinius der Ältere berichtete im 1. Jahrhundert von aufsehenerregenden Fällen prominenter Römer, die - für tot gehalten - auf dem Scheiterhaufen zu Bewusstsein kamen, aber nicht mehr gerettet werden konnten. Schon im Mittelalter kursierten Berichte von Toten, in deren Särgen Kratzspuren entdeckt wurden, von Leichen, die noch im Grab seufzten und ihre Lage veränderten, und schließlich von Untoten, die - etwa als Vampire - über die Friedhöfe zogen.

Viele der Berichte dürften nicht mehr als Anekdoten gewesen sein, weitererzählt und in verschiedenen Regionen von der Bevölkerung dem jeweils lokalen Mythen- und Legendenschatz hinzugefügt. Tatsächlich aber war der Scheintod auch ein echtes Problem, mit dem sich viele Mediziner ernsthaft auseinandersetzten.

Schon in der Antike und im Mittelalter war den Ärzten bewusst, wie unsicher die Todeszeichen waren, auf die sie sich verlassen mussten: War kein Herzschlag und kein Puls mehr zu fühlen, blieb eine Flaumfeder bewegungslos auf dem Mund liegen und beschlug ein Spiegel nicht durch die Atmung, wurde der Betreffende für tot gehalten. Hatte er zuvor auch noch an einer Krankheit gelitten - womöglich sogar an einer ansteckenden - beeilte man sich, die Leiche unter die Erde zu bringen. Insbesondere Opfer der Cholera und der Pest waren gefährdet, zu Unrecht für tot erklärt zu werden, da sie bisweilen in ein Koma fielen.

Deshalb hatten Mediziner wie der Franzose Jacques-Bénigne Winslow (1669 bis 1760) bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass vor allem Totenflecken und Verwesung eindeutige Beweise für das Ableben waren. Auch wurde gefordert, mutmaßlich Verstorbene einer richtiggehenden Folter zu unterziehen - etwa Nadeln unter die Zehennägel zu schieben -, um sich des Todes sicher zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion veröffentlichte der französische Arzt Jean-Jacques Bruhier 1745 zusammen mit Winslows Lehre eine ausführliche Sammlung von Berichten über Scheintote. In etliche Sprachen übersetzt schürte das Buch die in der Öffentlichkeit bereits bestehende Angst vor dem Scheintod weiter an.

"Die grässlichste unter den Qualen"

Auch Schriftsteller und Dichter leisteten hier ihren Beitrag: So verarbeitete etwa Goethe (1749 bis 1832) die Vorstellung von Menschen, die aus dem Grabe auferstehen, in seiner "Braut von Korinth". Besonders fasziniert war Edgar Allen Poe (1809 bis 1849) vom Thema Scheintod. So schrieb er 1844 in "The Premature Burial": "Lebendig begraben zu werden ist ohne Zweifel die grässlichste unter den Qualen, die das Schicksal einem Sterbenden zuteilen kann. Und dass dies oft, sehr oft geschieht, wird kein Nachdenkender leugnen können." Der Dichter Gottfried Keller (1819 bis 1890) veröffentlichte einen ganzen Gedichtzyklus unter dem Titel "Lebendig begraben".

Intensiv beschäftigte sich auch die deutsche Dichterin Friederike Kempner (1836 bis 1904) mit dem Thema - allerdings mit eher schlichter Lyrik: "Stürmisch ist die Nacht,/Kind im Grab erwacht,/Seine schwache Kraft/Es zusammenrafft", heißt es etwa in ihrem Gedicht "Finster und stumm".

Bereits im 18. Jahrhundert forderten Ärzte in Europa die Einrichtung von Totenhäusern, in denen die Leichen aufbewahrt werden sollten, bis Anzeichen der Verwesung auftraten. Umgesetzt wurde die Idee in Europa dann zum ersten Mal 1792 in Weimar auf Betreiben des bekannten Mediziners Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836), der selbst ein großes Lexikon zum Thema Scheintod veröffentlichte. Eine der Maßnahmen, die in solchen Häusern zur Anwendung kamen, waren Schnüre, die die Toten mit Glöckchen verbanden. Beeindruckt schilderte etwa der amerikanische Schriftsteller Mark Twain solche Vorrichtungen, die er auf seiner Europareise in einem Münchner Totenhaus gesehen hatte.

Um den Tod im Sarg zu vermeiden, bestimmten manche Menschen zu Lebzeiten, ihre Gräber mit Mechanismen zu versehen, über die vom Sarg aus Glocken geschlagen oder Fahnen entrollt werden konnten. Manche setzten auf Särge mit Belüftungsrohren und Fenstern, andere ließen sich mit einem Klappspaten beerdigen.

Spezialsarg für Menschen, die Angst davor hatten, lebendig begraben zu werden

Ein Sarg für Menschen, die Angst davor hatten, lebendig begraben zu werden: 1868 meldete Franz Vester dieses Modell in den USA zum Patent an

(Foto: oh)

In Österreich-Ungarn war es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unüblich, dass ein Arzt einer Leiche mit einem Dolch ins Herz stieß oder die Pulsadern öffnete, um das Begraben eines nur Scheintoten zu verhindern. Was heute absurd erscheint, wurde von den Menschen damals allerdings selbst häufig testamentarisch verfügt. Bekannt ist dies zum Beispiel von Alfred Nobel (1833 bis 1896) und dem dänischen Dichter Hans Christian Andersen, der darüber hinaus jeden Abend einen Zettel auf seinen Nachtisch legte: "Ich bin nur scheintot." Der Philosoph Alfred Schopenhauer (1788 bis 1860) legte fest, dass nach dem Tode sechs Tage bis zur Beerdigung zu warten sei.

Seit sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts staatliche Vorschriften wie eine ärztliche Leichenschau und eine Wartezeit vor der Beerdigung durchgesetzt haben, hat die Angst vor dem Scheintod nachgelassen. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass in Deutschland ein Scheintoter unter der Erde oder im Krematorium aufwacht, gleich null.

Während das Scheintod-Problem also seit etwa hundert Jahren erfolgreich gelöst ist, ist die Frage nach dem exakten Zeitpunkt des Todes in einem anderen Zusammenhang wieder relevant: Die Entnahme von Organen zur Transplantation sollte möglichst bald nach dem Tode eines Menschen stattfinden.

Die Mediziner entscheiden hier nach dem Kriterium Hirntod: Wenn aufgrund einer Schädigung des Gehirns sämtliche Hirnfunktionen unwiederbringlich erloschen sind, gilt der Betreffende der deutschen Bundesärztekammer zufolge als tot - auch wenn Atmung sowie die Herz- und Kreislauffunktionen noch künstlich aufrechterhalten werden. Für die Diagnose müssen zwei Ärzte unabhängig voneinander unter anderem bestätigen, dass der Patient nicht mehr spontan atmet und keine Reflexe zeigt. Außerdem wird mit einem EEG überprüft, ob noch Hirnströme messbar sind.

Dieser Zustand darf nicht mit einem Koma oder Wachkoma verwechselt werden, bei dem noch Teile des Gehirns arbeiten und aus dem manche Betroffene wieder erwachen. Beim hirntoten Menschen erlöschen auch alle anderen Lebensfunktionen, wenn die Maschinen abgeschaltet werden.

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