Pädiatrie:Für todkranke Kinder die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit

Mario Czaja besucht Kinderarztpraxis

Wer schützt wen vor schlechten Prognosen: der Arzt den Patienten - oder umgekehrt?

(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Auch kleine Patienten haben das Recht, von ihren Eltern und Ärzten über eine schwere Erkrankung aufgeklärt zu werden. Sie ahnen sowieso meist, wie es um sie steht.

Von Werner Bartens

Die Ärzte mochten die Zwölfjährige, weil sie meist fröhlich wirkte. Das Mädchen war an akuter Leukämie erkrankt. Nachdem es ein paar Tage zu Hause verbracht hatte, kam das Kind jedoch völlig verändert ins Krankenhaus zurück. Es wirkte apathisch und verstummt. Der Stationsarzt war besorgt, nahm das Kind mit in sein Zimmer und fragte: "Weißt du eigentlich, was du hast?" Das Kind antwortete: "Ja, Krebs. Akute Leukämie." Es hatte die Begriffe zu Hause nachgeschlagen, nachdem es in der Klinik auf dem Weg zum Röntgen den Zettel gesehen hatte, auf dem sein Name und die Diagnose standen. "Dann hast du auch gelesen, dass du sterben musst?", fragte der Arzt weiter. "Ja", antwortete das Mädchen ruhig.

Es folgte ein langes Gespräch, in dem der Arzt dem Mädchen erklärte, dass die Krankheit zwar häufig tödlich verläuft, es aber auch Behandlungsmöglichkeiten mit einer echten Chance auf Heilung gibt. Immer wieder versuchte das Kind herauszufinden, ob der Arzt ihm etwas vormachte, um es zu beruhigen. Schließlich versprach der Doktor dem Mädchen, dass er auch dann offen mit ihm reden würde, sollte es mit der Therapie nicht klappen. Schon bald veränderte sich das Verhalten des Mädchens und es öffnete sich wieder.

"Ich habe mir geschworen, ich verschweige nie wieder etwas"

"Ich habe mir geschworen, ich verschweige nie wieder etwas. Von diesem Moment an habe ich alle meine Patienten aufgeklärt", erinnert sich Dietrich Niethammer, der langjährige Chef der Unikinderklinik Tübingen, an seine Zeit als junger Arzt. "Mir wurde klar, dass diese Lügerei schrecklich ist. Ich wollte es anders machen und nicht mehr um den heißen Brei herumreden. Patienten brauchen die Wahrheit - das gilt auch für Kinder." Seit dieser Episode, die sich 1973 abspielte, wurde es zu Niethammers Lebensthema, Kinder ernst zu nehmen und aufzuklären - auch wenn sich der Krebs nicht so entwickelte wie bei der Zwölfjährigen, die überlebte.

Bis zu jener Zeit war es in der Medizin üblich, Kindern - und oft auch den Erwachsenen - nicht viel über ihre Prognose zu verraten, erst recht nicht, wenn sie schlecht ausfiel. Kindern wurde unterstellt, nicht über den Tod nachzudenken, folglich müsse man sich als Arzt auch nicht damit auseinandersetzen, wie das Kind damit umgeht. Das Thema Sterben wurde unterdrückt. Offenbar wirkten Sigmund Freuds Sätze aus der "Traumdeutung" nach, wonach das Kind "nichts weiß von den Gräueln der Verwesung, vom Frieren im kalten Grab, vom Schrecken des endlosen Nichts". Freud zufolge hätten Kinder keine Todesfurcht, sondern würden den Tod als "einfaches Fortsein" auffassen.

Freud unterstellte Kindern, nicht über den Tod nachzudenken. Also weshalb sie dann aufklären

Was für eine Fehleinschätzung, wie man heute weiß. "Kinder ahnen die Wahrheit", sagt Urban Wiesing, Medizinethiker an der Uni Tübingen. Wird sie Kindern verschwiegen, dient dies eher dem Selbstschutz von Eltern und Medizinern. Bis heute kommt es vor, dass Ärzte gebeten werden, Kindern und Jugendlichen die düstere Prognose zu beschönigen, wie Kinderärzte aus Seattle soeben im Fachmagazin JAMA Pediatrics gezeigt haben. "Eltern wollen ihre Kinder beschützen und vor schwierigen Situationen bewahren", sagt Kinderärztin Abby Rosenberg, Hauptautorin des Artikels. "Aber wenn sie sich darauf einlassen, können Bedürfnisse der Kinder erfüllt und Ängste gelindert werden. Das ist der beste Schutz für das Kind."

Dietrich Niethammer ist zwar der Auffassung, dass Ärzte Kinder nicht gegen den Willen ihrer Eltern aufklären sollten. Letztlich sei es ihm aber fast immer gelungen, die Eltern - manchmal mithilfe anderer Eltern - davon zu überzeugen, dass es für das Kind das Beste sei, wenn es um seine Krankheit weiß. "Es ist wichtig, nicht nur die kranken Kinder, sondern auch die Geschwister aufzuklären. Die sind Teil der Familie und bekommen mit, dass da etwas los ist, was alle beschäftigt", sagt Niethammer. Kranke Kinder wissen meist, wie es um sie steht. Eine 14-jährige Krebspatientin hatte, ein paar Tage nachdem ihre Zimmerkollegin gestorben war, deren Eltern besucht. "Die glauben immer noch, dass ihre Tochter nicht wusste, dass sie sterben muss", erzählte sie ihrem Arzt. "Dabei haben wir nächtelang darüber geredet."

Vom Prinzip her ist die Aufklärung bei einem Neunjährigen genauso wie bei einem 90-Jährigen

Auch wenn Eltern offen mit Kindern über die Krankheit reden, gelingt die Kommunikation nicht immer auf Anhieb. So wie bei dem siebenjährigen Mädchen, das an einem Neuroblastom litt. Eines Tages wurde es mit dramatischen Schmerzen in die Klinik eingeliefert, die nicht durch den Tumor zu erklären waren. Dann stellte sich heraus, dass der gläubige Vater dem Mädchen gesagt hatte, dass es wohl Gottes Wille sei, wenn es bald sterben müsse. Die Siebenjährige hatte den Eindruck, ihr Vater habe sich längst mit ihrem Tod abgefunden. Ein paar Tage später ging es ihr wieder besser. Sie hatte ihren Vater wütend angeschrien, dass es ihm wohl egal sei, wenn sie sterben würde. Er brach zusammen, beide weinten, und da spürte sie, dass es ihrem Vater keineswegs gleichgültig war. "Eltern brauchen Anleitung und Hilfe", sagt Niethammer. "Die Angst, ein Kind zu verlieren, ist ja so schrecklich."

Allerdings sind auch viele Ärzte überfordert, wenn Patienten schwer krank sind und der Tod unausweichlich ist. Sie fürchten die Auseinandersetzung oder empfinden es als persönliches Versagen, nicht mehr heilen zu können. Wie viele tatsächlich die Zeit und die Empathie aufbringen, Patienten nicht nur aufzuklären, sondern sich immer wieder auf sie einzulassen und in einem kontinuierlichen Prozess zu begleiten, ist ungewiss. "Vom Prinzip her ist die Aufklärung bei einem Neunjährigen genauso wie bei einem 90-Jährigen. Beide haben das Recht zu erfahren, wie es um sie steht", sagt Medizinethiker Wiesing. "Nur die Wortwahl unterscheidet sich."

Dietrich Niethammer hat immer wieder gezeigt, wie entlastend es für kranke Kinder wie auch für ihre Ärzte ist, die Wahrheit auszusprechen, zuletzt in seinem Buch "Wenn ein Kind schwer krank ist. Über den Umgang mit der Wahrheit" (Suhrkamp 2010). Ärzte scheuen sich trotzdem oft davor, das heikle Thema anzusprechen. "Die Medizin hat weiterhin Schwierigkeiten damit, wobei erschwerend hinzukommt, dass der Tod aus der Perspektive der Medizin immer - und mit wachsenden Erfolgen in zunehmendem Maße - ein Eingeständnis ihrer Niederlage ist", sagt der Medizinethiker Cornelius Borck von der Universität Lübeck. "Das gilt gerade bei Krebspatienten, die ja zunächst meist aggressiv behandelt werden. Da kann man sich schon fragen, wer hier wen vor welcher schlechten Nachricht schonen will."

"Ich fürchte, ich habe schwierige Neuigkeiten"

Abby Rosenberg zeigt in ihrem Artikel, wie Ärzte Kinder darauf ansprechen können, wenn es schlecht um sie steht. "Wir sollten über deine Krankheit reden - wie viel willst du wissen?" So könnte ein Gespräch beginnen. "Gibt es etwas, worüber ich zuerst mit deinen Eltern reden sollte?", könnte das Gespräch weitergehen. Zudem ist es wichtig, wie Niethammer betont, Kindern früh zu vermitteln, dass man immer ehrlich zu ihnen sein wird und die Wahrheit sagt. Schreitet die Krankheit fort, lautet ein Satz vielleicht: "Erinnerst du dich daran, dass ich dir immer geradeaus sagen wollte, wie es um dich steht? Ich fürchte, ich habe schwierige Neuigkeiten."

Zwar gehört es zum Informationsrecht jedes Patienten, über die Prognose angemessen informiert zu werden. "Der Umgang mit schlechten Prognosen war aber lange von einem falsch verstandenen Paternalismus der Ärzte geprägt", sagt Borck. "Da hat sich viel getan. Die Zeiten, als Todgeweihten auf keinen Fall diese Information übermittelt und Angehörige instruiert wurden, wie sie möglichst fürsorglich das bevorstehende Ende vor dem Sterbenden geheim zu halten hatten, sind vorbei."

"Was für ein Unsinn", sagt der Kinderarzt

Jeder Patient sollte die Chance haben, mit dem Lebensende nach seinen Wünschen umzugehen. Verschweigen führt hingegen dazu, dass Pläne nicht mehr angepasst werden können. "Das gilt auch für Kinder und Heranwachsende, zumal wenn sie sich erkennbar ähnliche Gedanken machen. Es geht doch nicht darum, Sterben im Modus des Ärztewissens zu verstehen, sondern im Rahmen eigener Lebensvorstellungen", sagt Medizinethiker Borck. "Warum soll das nicht im Kindesalter möglich sein? Kinder haben vielleicht sogar noch mehr Anspruch darauf, angemessen informiert zu werden, weil ihnen mehr von ihrem Leben genommen wird."

Das heißt nicht, Patienten sofort mit ihrer schlechten Prognose zu überfallen. Die Wucht der Aufklärung kann auch erschlagen. Die reine Weitergabe von Informationen, ohne ausreichend Zeit und Mitgefühl, hilft Patienten wenig. Gerade schlechte Nachrichten benötigen Abstand mit Gelegenheit zum Wiederholen, Reflektieren, Fühlen - und Begleitung durch den Arzt. Als Dietrich Niethammer von seinen guten Erfahrungen berichtete, entgegneten ihm Internisten, dass man mit Kindern vielleicht so umgehen könne, mit Erwachsenen aber nicht. "Was für ein Unsinn", sagt der Kinderarzt. "In jedem Lebensalter ist es wichtig, dass man Menschen hat, mit denen man über seine Ängste reden kann."

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