Papst Benedikt XVI. und die Wissenschaft:Angst vor einer "Flut von Bösem"

Papst Benedikt XVI.

Papst Benedikt XVI. zündet an Heilig Abend 2011 im Petersdom das "Licht des Friedens" an.

(Foto: dpa)

Joseph Ratzinger hat als Papst Benedikt XVI. wissenschaftliche Erkenntnisse in das römisch-katholische Weltbild integriert. Doch ging es ihm niemals darum, dieses Weltbild zu verändern. Stattdessen hat er versucht, Adam und Eva, die Erbsünde und die christliche Vorstellung vom Bösen in die moderne Welt hinüberzuretten.

Von Markus C. Schulte von Drach

Manchen gilt Joseph Ratzinger als Philosoph: Papst Benedikt XVI. hat sich in den vergangen Jahrzehnten einen Ruf als großer Theologe und tiefer Denker erarbeitet. Eine der wichtigsten Aufgaben, denen er sich während seines Pontifikats verpflichtet fühlte, war, Glaube und Vernunft zusammenzubringen.

Nun ist Vernunft mehr als logisches Denken und rationales Verhalten. Auf jeden Fall aber gilt es gemeinhin als vernünftig, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Und auch Joseph Ratzinger hat sich als Kardinal und Papst wiederholt bemüht, den katholischen Glauben in Einklang zu bringen mit dem, was Wissenschaftler über das Leben und den Kosmos bislang herausgefunden haben.

Wer jedoch meint, es wäre ihm dabei darum gegangen, Glaubensinhalte zu verändern, weil wissenschaftliche Erkenntnisse dies notwendig machten, irrt. Ratzinger hat es immer mit dem heiligen Anselm von Canterbury, einem Theologen des 11. Jahrhunderts, gehalten: "Ich suche nicht zu begreifen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu begreifen." Erst kommt die Glaubensgewissheit - und was Wissenschaftler herausfinden, wird entsprechend interpretiert.

Evolution im Sinne des Vatikans

Vor diesem Hintergrund lässt sich zum Beispiel der Umgang der katholischen Kirche mit der Evolutionstheorie verstehen. Der Vatikan erklärt seit Jahrzehnten, diese Theorie würde akzeptiert - auch wenn sie sich nicht abschließend beweisen ließe. Immer wieder wurde vom Vatikan darüber hinaus betont, Papst Benedikt XVI. distanziere sich von den Kreationisten, die die Erde für etwa 6000 Jahre alt halten, und von der Idee des Intelligent Design, die besagt, dass ein intelligentes Wesen alles Leben entworfen hat. Allerdings unterscheidet sich die Vorstellung Ratzingers von der Entwicklung des Lebens in wichtigen Punkten von der der Biologen.

Die Evolutionstheorie geht von einem Zusammenspiel von zufälligen Mutationen in den Lebewesen aus, die sich in den jeweiligen Umweltbedingungen als Nachteil oder Vorteil zeigen und so zur Entstehung neuer Arten führen können. In diesem Rahmen ist auch der Mensch als Zufallsprodukt entstanden, mitsamt seinem Bewusstsein und Sozialverhalten.

Vom Vatikan wird der Evolution allerdings ein göttlicher Antrieb hinzugefügt, der gezielt zur Entstehung des Menschen geführt haben soll. Wie Joseph Ratzinger in der Predigt zu seiner Amtseinführung als Papst 2005 sagte, sind wir "nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes." Und die Evolution sei ausgerichtet auf ein bestimmtes Ziel: der Mensch in der Auferstehung.

Vernünftige Rationalität der Materie

Ratzinger zufolge gibt es sogar eine Rationalität der Materie selbst, die vernünftig sein soll - selbst wenn es auf dem Weg der Evolution Irrationales, Chaotisches und Zerstörerisches gebe. "Trotz seiner Irrungen und Wirrungen durch den schmalen Korridor hindurch, in der Auswahl der wenigen positiven Mutationen und in der Ausnützung der geringen Wahrscheinlichkeit, ist der Prozess als solcher etwas Rationales", sagte Ratzinger 2006 auf einer Tagung mit Wissenschaftlern und Theologen zum Thema "Schöpfung und Evolution" in der Sommerresidenz des Papstes in Castelgandolfo bei Rom.

Diese doppelte Rationalität führt ihm zufolge zwangsläufig zu einer Frage, die über die Wissenschaft hinausgeht, und trotzdem eine Vernunftfrage sein soll: "Woher stammt diese Rationalität? Gibt es eine ursprunggebende Rationalität, die sich in diesen beiden Zonen und Rationalitäten spiegelt?" Und dann stellte der Papst fest: "Die Naturwissenschaft kann und darf darauf nicht direkt antworten."

Trotzdem müssten wir die Frage nach dem Ursprung der Rationalität "als eine vernünftige anerkennen und es wagen, der schöpferischen Vernunft zu glauben und uns ihr anzuvertrauen". Schließlich sei nicht vorstellbar, dass das Unvernünftige einen mathematisch geordneten Kosmos und den Menschen und seine Vernunft hervorbringe.

"Dann sind wir frei"

Auf der Grundlage seiner Glaubensgewissheit fühlte sich Ratzinger als Benedikt XVI. sogar frei, weitere Behauptungen aufzustellen: "Nicht die Elemente des Kosmos, die Gesetze der Materie und der Evolution herrschen letztlich über die Welt und den Menschen, sondern ein persönlicher Gott herrscht über das All; nicht die Gesetze der Materie und der Evolution sind die letzte Instanz, sondern Wille, Verstand, Liebe - eine Person. Und wenn wir diese Person kennen, sie uns kennt", erklärte der Papst in seiner Enzyklika Spe salvi 2007, "dann ist wirklich die unerbittliche Macht der materiellen Ordnungen nicht mehr das Letzte, dann sind wir nicht Sklaven des Alls und seiner Gesetze, dann sind wir frei."

Zwei Dinge stellte Benedikt XVI. damit klar:

Erstens - und das ist von fundamentaler Bedeutung: Es gibt eine Grenzlinie zwischen der Kompetenz, die er Naturwissenschaftlern zugesteht, und der Kompetenz, die er für sich und die Theologie überhaupt in Anspruch nimmt.

Letztere ist die Kompetenz, die Fragen nach dem Woher, Wohin und dem Sinn des Lebens beantworten zu können. Und diese Kompetenz speist sich ihm zufolge zuallererst aus dem Glauben an eine schöpferische Vernunft, der zu glauben gewagt werden müsste. Gewagt deshalb, weil dieser Glaube an Gott letztlich vor allem darauf beruht, dass eine andere Erklärung für die Naturgesetze als ein Gott für ihn nicht vorstellbar ist.

In der Wahl seiner Begriffe legte der Papst also in großer Ehrlichkeit offen, dass es sich bei seinem Gottesglauben bei all seiner Gewissheit auch um einen Mangel an Vorstellungskraft oder schlicht und einfach derzeit noch herrschendes Unwissen handeln könnte.

Theologen und Naturwissenschaftler unterscheiden sich demnach eigentlich nicht in der Kompetenz. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass Gläubige die Existenz eines Gottes voraussetzen und ihre Erklärungen von dort her anlegen - so wie es Anselm von Canterbury vorgemacht hat. Naturwissenschaftler dagegen dürfen jeder vorstellbaren Frage nachgehen - sofern sie dabei von bereits zuvor empirisch gewonnenen Erkenntnissen ausgehen.

Zweitens zeigte der Papst, dass sein Glaube doch große Übereinstimmungen mit Kreationismus und Intelligent Design (ID) aufweist. Zwar weiß Joseph Ratzinger im Gegensatz zu vielen Kreationisten, dass es lächerlich ist, die Bibel in allen Punkten wörtlich zu nehmen und die Schöpfung auf einen Termin vor 6000 Jahren zu datieren. Doch der Papst geht selbstverständlich von einem intelligenten Designer - Gott - und einem Schöpfungsplan aus: Dessen Ziel ist, wie bereits gesagt, der Mensch in der Auferstehung.

Die katholische Kirche lehnt den Anspruch der Anhänger des Intelligent Design ab, diesen Schöpfungsplan mit naturwissenschaftlichen Methoden in perfekten Bauplänen der Lebewesen nachweisen zu können. Durch die Distanzierung von Kreationisten und ID-Anhängern erweckt der Vatikan den Eindruck, den seriösen Naturwissenschaftlern näher zu stehen. Doch dieser Eindruck ist falsch.

Adam und der Sündenfall

Wie sehr sich der Vatikan verbiegen muss, zeigt auch der heute gültige Weltkatechismus der katholischen Kirche von 1992, zu dessen Autoren Kardinal Joseph Ratzinger gehört. Darin findet sich zum Beispiel der Versuch, eine Vorstellung von Adam und Eva als den ersten Menschen irgendwie doch noch in die Moderne zu retten.

Der Bericht vom Sündenfall, so ist dort zu lesen, "verwendet eine bildhafte Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen stattgefunden hat. Die Offenbarung gibt uns die Glaubensgewissheit, dass die ganze Menschheitsgeschichte durch die Ursünde gekennzeichnet ist, die unsere Stammeltern freiwillig begangen haben".

Ein Katholik muss also an Adam und die Ursünde glauben, die auf alle seine Nachfahren übertragen wurde und jedem Menschen innewohnt. Sonst wäre der Idee von der Erbsünde die Grundlage entzogen, und die Katholiken müssten sich fragen, wofür Jesus eigentlich gestorben ist, wenn nicht um alle Menschen von den Sünden zu erlösen.

Liebe als Gottesbeweis

Wie geschickt der Papst darin war, die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler in das römisch-katholische Weltbild zu weben, zeigt anschaulich sein poetisch anmutender Versuch, die Existenz Gottes anhand der Liebe zu belegen, die in unserem Universum erkennbar sein soll: "Wir können es in einem gewissen Maß erahnen, wenn wir sowohl den Makrokosmos - unsere Erde, die Planeten, die Sterne, die Galaxien - als auch den Mikrokosmos - die Zellen, die Atome, die Elementarteilchen - betrachten. In alles Seiende ist in gewissem Sinne der 'Name' der Allerheiligsten Dreifaltigkeit eingeprägt, da das ganze Sein, bis hin zum letzten Partikel, ein In-Beziehung-Sein ist", sagte er 2009 zum Fest der Heiligsten Dreifaltigkeit auf dem Petersplatz. "Und auf diese Weise scheint Gott durch, der Beziehung ist, es scheint letztlich die Schöpferliebe durch. Alles geht aus der Liebe hervor, strebt hin zur Liebe und bewegt sich gedrängt von der Liebe, natürlich in unterschiedlichen Stufen des Bewußtseins und der Freiheit."

Offensichtlich betrachtet Joseph Ratzinger also die Gesetzmäßigkeiten in unserem Kosmos nicht nur als Zeichen einer Rationalität, sondern die physikalischen Kräfte zwischen sämtlicher Materie als Beziehung, als Liebe. Beziehung und Liebe werden dann mit Gott gleichgesetzt. Also wird Gott in den Gesetzmäßigkeiten der Physik erkennbar, und seine Liebe auch. Skeptiker könnten nun fragen, ob es auch ein Zeichen für Liebe ist, dass unsere Erde aufgrund der Gesetzmäßigkeiten und Beziehungen im Kosmos in einigen Milliarden Jahren in die Sonne stürzen wird.

Aber Benedikt XVI. setzt eben ausdrücklich auf die "vom Herzen erleuchtete Vernunft", um zu lernen, "nach der Wahrheit in der Liebe zu handeln". Und "allein die Liebe macht uns glücklich, da wir in Beziehung leben, und wir leben, um zu lieben und geliebt zu werden. Einer der Biologie entlehnten Analogie gemäß könnten wir sagen, dass das Sein des Menschen in seinem 'Erbgut' die tiefe Spur der Dreifaltigkeit trägt, des Gottes, der die Liebe ist", sagte er 2009 auf dem Petersplatz. Wieder könnte der Skeptiker fragen, ob das auch für die Graugans gilt, deren Tendenz zur Monogamie zum Beispiel stärker ausgeprägt ist als die des Menschen.

Normen als Gesetze Gottes

Einen weiteren Hinweis auf die Existenz Gottes, der nicht mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zusammenpasst, betonte Benedikt XVI. im September 2011 bei seiner Rede im deutschen Bundestag: Auch die moralischen und ethischen Normen gingen ihm zufolge auf den Schöpfergott zurück. Hinweise auf Gottes Einfluss, so erklärte Benedikt XVI., hatte schon Paulus erkannt. Denn, so schrieb der Apostel, auch Heiden, die das jüdische Gesetz nicht kannten, taten manchmal von Natur aus, was im Gesetz gefordert ist. Nach Paulus zeigten sie so, dass ihnen die Forderung des Gesetzes von Gott ins Herz geschrieben ist.

Nun kommen Naturwissenschaftlicher, die das Sozialverhalten des Menschen untersuchen, ebenfalls zu dem Schluss, dass Verhaltensweisen, die über verschiedene Kulturkreise hinweg zu beobachten sind, mit der menschlichen Natur selbst zu tun haben dürften. Diese allerdings gilt ihnen als Produkt der Evolution, als Folge einer Reihe von Anpassungen an die Umwelt inklusive des sozialen Umfelds. Auch Verhaltensweisen, die "moralische" Fragen betreffen, gehören offenbar dazu.

Keine ethischen Weisungen aus der Natur

Dieses "positivistische Verständnis" von Vernunft lehnt Ratzinger jedoch grundsätzlich ab. "Wenn man die Natur als ein 'Aggregat von als Ursache und Wirkung miteinander verbundenen Seinstatsachen' ansieht, dann kann aus ihr [...] keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen", zitierte er im Bundestag den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen. Normen könnten nur aus dem Willen kommen. "Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten, wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hat. Dies wiederum würde einen Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Natur miteingegangen ist."

Und von hier war es für den Papst naheliegend, eine Lobrede auf das von Gott kommende Naturrecht zu halten. Dem Naturrecht im Sinne des Vatikans zufolge entstammen allerdings auch Normen wie jene, dass homosexuelle Handlungen als Verstoß gegen das 'natürliche Sittengesetz' - also als widernatürlich - abgelehnt werden. Auch die Ehe als Verbindung eines Mannes und einer Frau leitet Ratzinger vom Naturrecht ab.

In einem Punkt hatte Benedikt XVI. natürlich Recht: Ethische Weisungen können aus der Natur nicht hervorgehen. Naturwissenschaftler bieten aber alternative Erklärungen für die Entwicklung sozialer Verhaltensweisen an, die Menschen hier und heute als ethisch oder moralisch beurteilen. Es ist kein Gottesglaube notwendig, um etwa die Menschenwürde für ein hohes Gut zu halten. Dazu genügt die Erkenntnis, dass es keine objektive Rechtfertigung dafür gibt, dass mancher mehr hat als andere. Und dem Egoismus steht auch ohne Religion unsere natürliche Neigung zum Altruismus - des selbstlosen Verhaltens - gegenüber.

Auch das Gebot "Du sollst nicht töten" hat sich wahrscheinlich während des Entwicklungsprozesses des Menschen als vorteilhafte Strategie bewährt. Es handelt sich um eine Strategie, die nicht immer, sondern je nach den Umständen eingesetzt wird, wie nicht zuletzt die Geschichte der römisch-katholischen Kirche belegt. Man denke nur an die Kämpfe der Anhänger der katholischen Kirche gegen Katharer und Hussiten im Mittelalter und an andere Religionskriege in Europa.

"Eine von Grund auf verzweifelte Sicht"

Solche Ideen wies Benedikt XVI. allerdings weit von sich. Die Vorstellung, der Mensch sei nicht einfach gut, sondern aufgrund der Evolution offen für das Gute und Böse, sein eine "von Grund auf verzweifelten Sicht", erklärte er während einer Generalaudienz im Dezember 2008. "Wenn es sich so verhält, ist das Böse unbesiegbar. Am Ende zählt nur das Eigeninteresse. Und jeder Fortschritt wäre notwendigerweise mit einer Flut von Bösem zu bezahlen."

Das war eine Ohrfeige für alle die davon ausgehen, dass auch Verhalten, das gemeinhin als "böse" bezeichnet wird, seine Ursachen in der Sozialisation, der Psyche, den Genen und den jeweiligen Umständen einer Person haben kann. Und diese Faktoren halten nicht nur Atheisten, Agnostiker oder Anhänger anderer Religionen für relevant. Auch manche Christen haben heute Zweifel am Bild des Bösen einfach nur als "ein Geheimnis der Dunkelheit", das "aus einer geschaffenen Freiheit, einer missbrauchten Freiheit" stammt, wie Benedikt XVI. erklärte.

Der stärkste Beweis für die Richtigkeit des Glaubens ist und bleibt dem Papst zufolge übrigens die Liebe selbst. Und "die Liebe", so hat schließlich der Apostel Paulus geschrieben, "sieht weiter als der einfache Verstand".

"Liebe", so sagt allerdings auch eine alte Volksweisheit, "Liebe macht blind."

Dieser Text enthält Teile von Artikeln aus den Jahren 2010 und 2011. Aus Anlass des Papst-Rücktritts wurden die ursprünglichen Artikel erweitert und ausgearbeitet.

Der Autor hat zum Thema Religion und Naturwissenschaften einen Roman verfasst, der demnächst im Verlag Springer Spektrum erscheint: "Mythos".

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