Paläoanthropologie:Stand die Wiege der Menschheit auf dem Balkan?

Tübinger Forscher wollen in den Zähnen einer ausgestorbenen Affenart einen Beleg für diese These gefunden haben.

Von Kathrin Zinkant

Als sich der amerikanische Anatom Raymond Dart vor fast einhundert Jahren einen drei Millionen Jahre alten vormenschlichen Kinderschädel aus der südafrikanischen Stadt Taung schicken ließ, machte er sich unter Kollegen wenig Freunde. Zu jener Zeit galt noch Asien und nicht Afrika als der Ort, an dem sich aus dem Affen der Mensch entwickelt hatte. Darts Untersuchungen zum Kind von Taung stellte die Asien-Hypothese jedoch komplett auf den Kopf. Heute gilt als sicher, dass sich die Wege von Mensch und Affe in Afrika trennten.

Aber wie sicher ist das wirklich? Ein internationales Wissenschaftlerteam um die Tübinger Paläoökologin Madelaine Böhme will den entscheidenden Moment der menschlichen Evolution jetzt auf den Balkan verlegen: Die Forscher haben zwei zuvor in Bulgarien und Griechenland entdeckten Fossilien mit modernen bildgebenden Verfahren buchstäblich auf den Zahn gefühlt. Sie untersuchten die Wurzelkanäle eines Vorderbackenzahns und eines Unterkiefers von Graecopithecus freybergi, einer von Paläoanthropologen bislang wenig beachteten, ausgestorbenen Menschenaffenart. Im Wissenschaftsjournal PLoS One berichten Böhme und ihre Kollegen jetzt, dass der vor 7,2 Millionen Jahren in Europa lebende Graecopithecus vermutlich mit den späteren Arten der Menschengattung Homo verwandt ist - und dass eine Aufspaltung der Abstammungslinien von Mensch und Affe deshalb in Europa und nicht in Afrika zu verorten sei.

Es gibt berechtigte Zweifel an der Europa-Hypothese - auch weil die Fossilien spärlich sind

Es ist keine ganz neue Hypothese, die das Team um Böhme in der aktuellen Arbeit aufstellt. Die Zahl der fossilen Relikte, welche die evolutionsgeschichtliche Lücke zwischen modernen Menschen und ihren nächsten Verwandten, den Schimpansen, schließen könnte - sie hat in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch zugenommen. Dutzende Arten sind bekannt, die meisten lebten vor zwei bis sieben Millionen Jahren in Afrika. Dazu gehören berühmte Funde wie die 3,2 Millionen Jahre alte Lucy, ein Australopithecus-Weibchen, wie auch die 4,4 Millionen Jahre alte Ardi, ein Fossil von Ardipithecus ramidus. Im Tschad fand man 2001 zudem die Überreste des sieben Millionen Jahre alten Sahelanthropus tchadensis, der von einigen Wissenschaftlern ebenfalls zu den Homininen gezählt wird, also zu den Menschenartigen, die näher mit dem Menschen verwandt sind, als mit den heute lebenden Menschenaffen.

Es gibt jedoch auch potenzielle Kandidaten für Hominine aus Ausgrabungsstätten in Europa und Asien. Entsprechend existieren Theorien, die eine Entwicklung vom Affen hin zum Menschen außerhalb Afrikas nahelegen. Graecopithecus gehörte zu den bislang am schlechtesten untersuchten Arten dieser Gruppe. Viele Wissenschaftler sind sich noch nicht einmal sicher, ob die Spezies tatsächlich eigenständig existiert hat, oder ob sie identisch ist mit dem 1974 ebenfalls in Griechenland entdeckten Ouranopithecus macedoniensis. Die Datierung der Fundstellen hat gezeigt, dass beide Arten bereits vor mehr als sieben Millionen Jahren in Europa lebten.

Die Untersuchung der Zahnwurzeln hat sich für eine Stammbaumanalyse als sehr nützlich erwiesen. Insbesondere, wenn man die kleinen Backenzähne im vorderen Bereich des Kiefers betrachtet: Während diese Zähne bei weniger entwickelten Menschenaffen mehrere Wurzeln besitzen, sind die Wurzeln der vorderen Backenzähne beim Menschen zu einer verschmolzen. In ihrer Studie konnten Böhme und ihr Team mithilfe der Computertomografie die Wurzelstruktur der Zähne detailliert betrachten. Anhand der Funde lässt sich wohl eine Unterscheidung zwischen Ouranopithecus und Graecopithecus rechtfertigen: Die Zahnwurzeln von Graecopithecus zeigen Ansätze einer Verschmelzung.

Ob diese Beobachtung jedoch als Beleg für Europa als wegweisenden Ort der frühen menschlichen Abstammungsgeschichte ausreicht? Daran dürfte zu zweifeln sein. Zum einen sind die Fossilien spärlich. Zum anderen haben genetische Analysen gezeigt, dass es unter den zahlreichen vormenschlichen Affenarten zu einer intensiven Durchmischung kam. Lineare Abstammungslinien lassen sich nach Ansicht mancher Experten deshalb gar nicht definieren. Eher gleicht der vormenschliche Stammbaum wohl einem Dickicht, das zu durchschauen noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

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