Orthorexia nervosa:Besessen vom gesunden Essen

"Irgendwann können sie nur noch Obst und Gemüse essen": Wenn Nahrungstabellen und Diätpläne den Alltag bestimmen.

Von Imke Schridde

Wenn ihr Freund einen Burger gegessen hat, kann Anna W. ihn nicht mehr küssen. Sie mag nicht mal mehr in seiner Nähe sein, weil sie "ekelhafte Ausdünstungen" wahrnimmt. Sie selbst isst kein Fleisch, nimmt keine tierischen Fette zu sich und kauft nur im Bioladen ein. Anna W. versucht die Aufnahme von Vitaminen und Spurenelementen in ihrem Diätplan exakt zu berechnen und wiegt die Lebensmittel penibel vor dem Verzehr.

Gesundheitsfanatiker wie Anna W. hat der amerikanische Arzt Steven Bratman schon 1997 in seinem Buch "Health Food Junkies" beschrieben. Seiner Ansicht nach handelt es sich um eine handfeste Essstörung. Seitdem taucht der Terminus Orthorexia nervosa (abgeleitet vom griechischen orthós für "richtig" und orexsis für "Appetit") in Ernährungsheften ebenso wie in Frauenzeitschriften auf.

Ernährungsexperten aber waren bisher zurückhaltend. Erst neuerdings beschäftigen sie sich mit der Orthorexia nervosa und geben ihr so einen wissenschaftlichen Stellenwert.

Der Mangel an Fachliteratur sei "dramatisch", meint Carlo Cannella vom Institut für Ernährungswissenschaften der römischen Universität La Sapienza. Bisher liege für die Orthorexia nervosa weder eine Definition noch eine systematische Beschreibung vor.

Um erste diagnostische Hilfestellung zu geben, hat Cannella vor wenigen Monaten die erste Studie über die krankhafte Fixierung auf gesundes Essen publiziert (Eating Weight Disorders, Bd. 9, S. 151, 2004). Denn bisher gab es als diagnostisches Instrument lediglich den "Orthorexia-Selbsttest", den Steven Bratman bereits vor Jahren publiziert hat.

Mit zehn Fragen zum Essverhalten will Bratman die Neigung zum Gesundheitsjunkie klären. Zum Beispiel: Verbringen Sie mehr als drei Stunden am Tag damit, über Essen nachzudenken? Ist der gesundheitliche Wert der Speisen wichtiger als der Genuss? Isolieren Ihre Essgewohnheiten Sie im Bekanntenkreis?

Die Motivation ist für Bratman klar: "Jemand, der den ganzen Tag damit verbringt, nur Tofu und Quinoa-Kekse zu essen", sagt er, "kann sich so heilig fühlen wie jemand, der sein ganzes Leben den Obdachlosen gewidmet hat."

Auch die italienische Studie kommt zu dem Schluss: Orthorexia nervosa ist nicht nur durch ein typisches Essens- und Einkaufsverhalten gekennzeichnet, sondern auch durch eine ängstlich-zwanghafte Persönlichkeit.

404 Personen befragten die römischen Experten zu ihrem Essverhalten. Rund sieben Prozent der Teilnehmer stuften sie daraufhin als orthorektisch ein. Die meisten zeigten entweder in angstbesetzten Situationen oder in glücklichen Momenten ein unkontrollierbares Bedürfnis zu essen, einhergehend mit einem Gefühl der Schuld.

Was die Wissenschaftler dabei überraschte: Orthorektiker und nicht Betroffene gaben überwiegend dieselben Quellen an, aus denen sie ihre Informationen bezogen. Fixiert auf den eigenen Ernährungsplan, können selbst anders lautende Informationen eine orthorektische Person nicht von ihrer Überzeugung abbringen.

Der Glaube, "absolute Gesundheit" zu erreichen, und der Wunsch nach "totaler Kontrolle" über sich selbst siegen über die Vernunft, so die Forscher.

Noch etwas erstaunte die Wissenschaftler: Unter den Orthorektikern waren mehr Männer als Frauen. Erklären lasse sich dies mit dem Druck, den der Körperkult zunehmend auch auf Männer ausübt. Weil das männliche Schönheitsideal mehr in Gesundheit, Kraft und Muskeln als im Dünnsein bestehe, könnten Männer im gesundheitsfanatischen Essverhalten einen Weg suchen, sich diesem Ideal anzunähern.

Der Wunsch abzunehmen, ist laut Studie nicht unbedingt ein Merkmal für die Orthorexia nervosa. Zwar wird hier - wie auch bei der Magersucht (Anorexia nervosa) und der Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) - der Nahrung ein übertrieben hoher Stellenwert eingeräumt.

Während sich magersüchtige Patienten aber auf die Quantität konzentrieren, steht bei Orthorektikern die vermeintliche Qualität des Essens im Vordergrund.

Häufig beginne das orthorektische Essverhalten mit dem Wunsch, den eigenen Gesundheitszustand zu verbessern oder chronische Krankheiten zu bekämpfen, schreibt die Wiener Ernährungswissenschaftlerin Ingrid Kiefer in dem Buch "Besessen vom Essen".

Aber auch Berichte über Lebensmittelskandale können der Grund dafür sein, dass aus "normalen" Essern Gesundheitsfanatiker werden. In wenigen Monaten wird Ingrid Kiefer ebenfalls eine Studie vorlegen.

Unter den Orthorektikern vermutet sie nur wenige, deren Gesundheit durch die Essstörung ernsthaft bedroht ist. Viel größer sei der "subklinische Anteil": "Bei den Betroffenen ist das Gesundheitsrisiko zwar noch überschaubar. Sie haben aber ein soziales Problem, weil sie ihre Familie und Freunde missionieren wollen. Und die wenden sich häufig verständnislos ab", sagt Kiefer.

Zwar sei eine gesunde Ernährung vernünftig, ergänzt sie. "Aber bei Orthorektikern geht das immer weiter. Irgendwann können sie nur noch Obst und Gemüse essen. Und zuletzt muss das Gemüse frisch geerntet sein."

Auf das Phänomen müsse verstärkt aufmerksam gemacht werden, fordert die Ernährungswissenschaftlerin. "Das schränkt das soziale Leben schon sehr ein." Unter der ständigen Berechnung von Ernährungstabellen und dem Aufstellen von Essensplänen leide oft sogar der Job.

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