Origami-Mathematik:Falten für die Forschung

Wissenschaftler machen sich ans Falzen und stehen vor einem Rätsel. Mathematisch gesehen gibt es manche Origami-Figuren gar nicht. Nützlich für die Forschung sind sie trotzdem.

Alexander Stirn

"Schön, nicht?" Erik Demaine hält eine kleine Papierskulptur in die Luft. In das braune Blatt hat er so lange immer kleiner werdende Quadrate gefaltet, bis sich das Papier in eine dreidimensionale Figur verwandelt hat. Demaine, Informatik-Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), betrachtet die Struktur von allen Seiten.

Origami-Mathematik: Die Kunst hat die Falttechnik schon lange entdeckt, nun machen sich Mathematiker ans Werk.

Die Kunst hat die Falttechnik schon lange entdeckt, nun machen sich Mathematiker ans Werk.

(Foto: Foto: Won Park)

Dann sagt er: "Dumm nur, dass sie nicht existiert - zumindest nicht mathematisch." Demaine zerknüllt das kleine Kunstwerk und wirft es lässig über die Schulter, nicht ohne ihm ein "Müll!" hinterherzurufen.

Willkommen in der wundersamen Welt der Mathematik. Der Origami-Mathematik, um genau zu sein. Allein damit, aus einem Stück Papier, nur durch falten, ohne Schere und Klebstoff, die seltsamsten Kreaturen zu erschaffen, geben sich Forscher nicht mehr zufrieden.

Sie wollen auch wissen, welche mathematischen Gesetzmäßigkeiten dahinterstecken. Vor allem aber interessiert sie, wie sich die Falttechnik optimieren lässt, schließlich ist das Origami-Studium mehr als ein Zeitvertreib für Mathematiker.

Professionell gefaltete Objekte finden sich heute fast überall, von der Medizin bis zur Raumfahrt. Und sie helfen, Schülern und Studenten die Faszination der Mathematik näherzubringen. "Origami hat ein riesiges Forschungsfeld aufgetan und zuvor undenkbare Einblicke ermöglicht", sagt Erik Demaine.

Der 28-Jährige, der nie eine Grundschule abgeschlossen hat, der von seinem Vater, einem durch die Lande ziehenden Glasbläser unterrichtet wurde, der mit 14 zur Uni ging und im Herbst 2001 zum jüngsten MIT-Professor aller Zeiten berufen wurde, weiß, wovon er spricht. Er gilt als der führende Theoretiker auf dem Gebiet der Origami-Mathematik.

Und Demaine bastelt gerne. Etwa Papierskulpturen, deren zerknüllte Existenz er anschließend in Frage stellt. Mit mathematischen Formeln und Methoden hatte der Informatiker zu ergründen versucht, warum das Papier mit seinen komplex ineinander gefalteten Quadraten jene Form annahm, die er gerade in Händen hielt - und ist gescheitert.

Es gab keinen sauberen Weg, um ein ebenes Blatt durch falten, biegen und ähnlich unschädliche Transformationen in die real existierende Form zu bringen.

Der Knülleffekt

Demaines Schlussfolgerung, die er beim Jahrestreffen des US-Wissenschaftlerverbands AAAS in Chicago erstmals präsentierte: Beim Falten müssen sich die physikalischen Eigenschaften des Papiers unmerklich verändert haben, durch winzige Risse oder unsichtbare Falze. Offensichtlich war Demaine an die Grenzen der Origami-Möglichkeiten gestoßen.

Ein Ausnahmefall, ein Knülleffekt, eine mathematische Fingerübung. Aber nichts, was das theoretische Faltengebilde zum Einstürzen bringt würde. Denn das folgt üblicherweise klaren Regeln, die Mathematiker zuletzt nach und nach aufgedeckt haben.

So kann das geometrische Muster, das sich durch die Falze einer flachen Origami-Figur ergibt, mit nur zwei Farben gefüllt werden - ohne dass sich zwei Flächen gleicher Farbe berühren. Zusammengefaltet haben Ober- und Unterseite der Figur jeweils eine Farbe. Origami-Praktiker mag das nicht überraschen, die Herausforderung der Mathematik bestand aber darin, das für alle denkbaren Fälle zu beweisen.

Airbags uns Stents könnten vom Origami profitieren

Genau wie bei einer andere Erkenntnis. Zählt man an den Schnittpunkten der Falze die Zahl der nach oben zu faltenden Kanten zusammen und zieht davon die Anzahl der nach unten gefalteten Linien ab, erhält man immer plus oder minus zwei - zumindest dann, wenn sich eine flache Figur ergeben soll. Und die ersten, dritten, fünften etc. Winkel am Schnittpunkt mehrerer Falze addieren sich in diesem Fall stets zu 180 Grad.

Origami macht zudem geometrische Konstruktionen möglich, die als undenkbar galten. Das Dritteln eines Winkels zum Beispiel: Wer sich daran mit Zirkel und Lineal versucht, wird scheitern. Dem Origami-Kundigen reichen sechs Falten.

Kunstvolles Falten

"Origami ist eine sehr alte und sehr restriktive Kunstform", sagt Robert Lang, promovierter Laserphysiker, erfolgreicher Halbleiteringenieur und nun hauptberuflicher Papierfalter. "Da sollte man denken, dass alles, was machbar ist, bereits versucht wurde." Dem ist aber nicht so.

Bis vor 20 Jahren kamen gängige Origami-Figuren mit maximal 30 Falten aus. Heute können es zehnmal so viele werden. Oder deutlich mehr, so wie bei der Klapperschlange, die Lang geschaffen hat - inklusive ihrer 1000 Papierschuppen. "So etwas faltet man aber nur einmal im Leben", sagt Lang und lacht.

Immerhin hat sich der Kalifornier die Arbeit selbst eingebrockt: Mitte der neunziger Jahre schrieb er ein Computerprogramm, das die Faltkunst revolutionierte und zuvor ungeahnte Formen erlaubte. Möglich machte das die Erkenntnis, dass sich jede Spitze (und damit jedes Insektenbein und jedes Hirschgeweih) formen lässt, indem ein Blatt immer wieder in die gleiche Richtung gefaltet wird.

So entsteht ein dünner Papierwulst, der sich wie ein Bein abknicken lässt. Wieder auseinandergefaltet sieht man, dass sich die Falze am Beginn dieses Beines durch das häufige Falten einer Kreisform angenähert haben, sie bilden gleichsam die Speichen eines Rades. "Die Kunst besteht darin, die Kreise möglichst platzsparend auf dem Papier unterzubringen", sagt Lang.

Dazu verwandelt seine Software die gewünschte Figur, etwa die eines Hirsches, zunächst in ein einfaches Strichmodell: vier Beine, Schwanz, Ohren, Nase und ein imposantes Geweih - 16 Ausbeulungen, die in Kreise umgewandelt und mit neun Verbindungsstücken als Faltmuster auf einem Blatt Papier untergebracht werden müssen. 200 Gleichungen sind dafür zu lösen, "für Computer ein Kinderspiel", sagt Lang.

Mit dieser Methode könne fast jede gewünschte Form geschaffen werden. "Und das 'fast' benutzt Robert nur, weil er es hinterher noch falten muss", scherzt Erik Demaine. In der Tat konnte der MIT-Professor vor kurzem beweisen, dass sich mit der von Lang optimierten Origami-Technik jede denkbare Figur herstellen lässt.

Längst hat die Faltkunst Denkstuben und Ateliers verlassen. Knautschzonen in Autos, die sich gekonnt zusammendrücken und dabei Energie absorbieren, nutzen Erkenntnisse der Papierforschung.

Ein metallischer Stent, der verstopfte Herzkranzgefäße offen halten soll, setzt auch auf die Technologie: Zusammengefaltet ist er wenige Millimeter dick, so kann er durch die Blutgefäße an seinen Einsatzort bugsiert werden, um sich auf seine fünffache Größe zu entfalten.

Auch Airbags werden so zusammengelegt, dass sie möglichst wenig Platz einnehmen, sich aber dennoch innerhalb von Sekundenbruchteilen entfalten. "In der Mathematik passiert es nicht selten, dass Probleme, die zunächst wegen ihres ästhetischen Werts gelöst werden, reale Anwendungen finden und sogar Leben retten", sagt Lang.

Auf dem Weg zum Faltteleskop

Das soll auch in Zukunft so bleiben: Erik Demaine arbeitet daran, die Faltung der Proteine im Körper besser zu verstehen. Sollte das gelingen, könnten eines Tages künstliche Origami-Eiweiße hergestellt werden.

Robert Lang will mit seinen Ideen noch höher hinaus. Im Auftrag des kalifornischen Lawrence Livermore National Laboratory hat er eine Methode entwickelt, um ein 100 Meter großes Weltraumteleskop namens "Eyeglass" ins All zu bringen.

Sinnvolle Faltkunst

In einer handelsüblichen Rakete, deren Frachtraum maximal fünf Meter Durchmesser hat, ist dafür kein Platz. An den richtigen, weil unempfindlichen Stellen gefaltet, kann es dennoch transportiert werden - ohne dass die Optik des Teleskops leidet. Ein fünf Meter großer Prototyp hat das bereits belegt.

Um das komplette Teleskop zu bauen, fehlt den Wissenschaftlern allerdings noch Geld: 100 Millionen Dollar. Robert Lang kann Geldscheine zwar kunstvoll falten, herbeizaubern aber nicht.

Dabei braucht es keine Millionenprojekte, um die Faltkunst sinnvoll einzusetzen: "Origami kann Schülern und Studenten eindrucksvoll vermitteln, wie sich Mathematik auf etwas anwenden lässt, was sie in Händen halten", sagt Lang.

Von einer "großartigen Möglichkeit" schwärmt auch Tamara Veenstra von der kalifornischen Redlands-Universität. Die Mathematikerin schildert ihre Origami-Erfahrungen mit einem Einführungskurs für College-Studenten. Die Studienanfänger bekamen die Aufgabe, ein Stück Papier ohne Lineal in fünf gleiche Abschnitte zu teilen.

Ist der Trick bekannt, fällt das nicht so schwer: Zunächst muss auf der linken Seite des Papiers etwa ein Fünftel der Länge markiert werden. Der übrige, vier Fünftel umfassende Abschnitt wird anschließend gefaltet und somit halbiert. Die Falzmarke unterteilt das Papier in Abschnitte mit ungefähr drei und zwei Fünfteln. Wird dieser kleinere Abschnitt nochmal gefaltet, bekommt man auf der rechten Seite eine genauere Schätzung für ein Fünftel.

Jetzt wiederholt man - ausgehend von dieser neuen Marke - das Verfahren auf der anderen Seite und bekommt nach zweimaligem Falten links eine Marke in der Nähe des ursprünglichen Strichs. Das Verfahren lässt sich beliebig wiederholen; bei jedem Falten wird der ursprüngliche Fehler halbiert, so dass sich schnell genaue Werte ergeben.

"Die Studenten lernen so nicht nur, was ein rekursives Verfahren ist, sie können dafür auch einen Algorithmus aufstellen und dessen Gültigkeit beweisen", sagt Thomas Hull, der am Western New England College Origami-Mathematik unterrichtet.

Der Umgang mit gefaltetem Papier deckt für ihn das komplette Spektrum von der Geometrie über die Kombinatorik bis zur linearen Algebra ab. Das kann Studenten spielerisch dazu bringen, Lust auf Mathematik zu entwickeln - und sich im Idealfall der wissenschaftlichen Beschreibung der Faltkunst zu widmen.

"Noch immer ist die Mathematik von Origami nicht vollständig geklärt, es gibt viele offene Fragen", sagt Thomas Hull. Ausreichend Gelegenheit also, um im Dienst Papiere zu falten und kleine Kunstwerke zu schaffen. Oder sie - wenn sie den mathematischen Anforderungen nicht gerecht werden - wieder zu zerknüllen.

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