Open Science:Freie Daten für freie Forscher

Psychologen aus Magdeburg stecken Tausende Euro in ihre Hirnforschung - und dann verschenken sie die Ergebnisse. Verrückt? Nein, vernünftig. Das kann anderen Wissenschaftlern helfen.

Von Bernd Eberhart

Fernsehen ist Leistungssport für das Gehirn. Von wegen passiv - solange Menschen auf dem Sofa vor der Glotze hängen, laufen im Kopf komplexeste Vorgänge ab. Das Hirn muss die Bilderflut aufnehmen, die akustischen Reize verarbeiten und alles zu einem sinnvollen Plot verknüpfen. Sprachverstehen, Gesichtserkennung, Erinnerungsvermögen, Emotionsverarbeitung sind nur ein Teil der neuronalen Prozesse, die für das Anschauen eines Filmes nötig sind. Fast so komplex also wie das echte Leben - und damit für Hirnforscher höchst interessant.

Mit dem Konsum von Hollywood-Produkte versuchen die Wissenschaftler, grundsätzliche Fragen zu klären: Wann ticken alle Menschen gleich? Und welche Abläufe im Hirn sind dagegen individuell verschieden? Das treibt eine Gruppe von Wissenschaftlern unter Leitung des Magdeburger Psychologen Michael Hanke um. Sie schieben ihre Studienteilnehmer jeweils für zwei Stunden in die Röhre eines Magnetresonanztomografen. Diese Maschine kann in bunten Bildern sichtbar machen, welche Hirnbereiche wann besonders aktiv sind. Meist horten Forscher solche Daten wie einen Schatz. Hanke aber hat sich jetzt entschieden, alles mit Kollegen zu teilen. Das hat mit seinem Ansatz zu tun, der gut zum neuen Konzept einer offenen, kooperativen Wissenschaft passt.

Damit die Aufnahmen vergleichbar sind, bekommen alle Teilnehmer das gleiche Programm: Den Filmklassiker "Forrest Gump" - allerdings nur die Tonspur. "Kollegen in den USA hatten einen ähnlichen Versuchsansatz", erklärt Michael Hanke diese Wahl des Stimulus. Allerdings zeigten sie tatsächlich einen Film mit Bildern. "Wir wollten nun in einem ersten Schritt herausfinden, welche von den gemessenen Aktivierungsmustern nur von den auditiven Prozessen ausgelöst werden."

Das sogenannte Hyperalignment, also der Vergleich unterschiedlicher Gehirne bei der Verarbeitung der exakt gleichen Reize, erlaubt es sogar, einfache Gedanken zu lesen. Ein Wissenschaftler kann etwa einzig anhand der Aktivierungsmuster eines ihm unbekannten Gehirns erkennen, welches Lied dem Probanden während des Hirnscans vorgespielt wurde. Um das Musikstück in den Hirnbildern erkennen zu können, braucht der Forscher allerdings Vergleichswerte aus anderen Gehirnen. Für das Beispiel wurden Aufnahmen von 19 Probanden ausgewertet, die dasselbe Lied zu hören bekommen hatten. So kalibriert, ließ sich dann anhand der neuronalen Aktivierungsmuster sagen, welche Klänge im Moment der Aufnahme durch die Windungen des 20. Hirns wanderten.

Das Beispiel zeigt, welch gigantische Datenmassen erhoben werden müssen, um brauchbare Aussagen über die Hirnfunktion einer Person machen zu können. Ein durchschnittlicher Popsong dauert drei Minuten. Der Film "Forrest Gump" läuft mehr als zwei Stunden - und die ganze Zeit zeichnet der Hirnscanner hochauflösende, dreidimensionale Bilder vom Gehirn eines Probanden auf. Diese Datenflut muss verwaltet und analysiert werden, mit der passenden Software bearbeitet und aufbereitet.

"Psychoinformatiker" nennt sich Michael Hanke deshalb auch stolz, er sei "der zweite weltweit". Ein Psychologe also, der auch viel von Computern versteht. Doch selbst ein Multitalent stößt an Grenzen. "Mir wurde klar, dass sich mit unseren Daten ganz andere Sachen machen lassen, von denen ich keine Ahnung habe", sagt Hanke. So entschied er sich, die Daten anderen Forschern zur Verfügung zu stellen.

Wer nicht veröffentlicht, macht auch keine Karriere - darum horten viele Forscher ihre Daten

So viel Offenheit ist ungewöhnlich in der Wissenschaft. Fachveröffentlichungen sind die Währung des akademischen Systems. Wer seine Daten oder Ergebnisse verrät, riskiert, dass andere Forscher ihm zuvorkommen. Oft artet Forschung in absurde Wettrennen um die Erstveröffentlichung aus. An nahezu jedem Forschungsthema arbeiten etliche Gruppen rund um die Welt, machen die gleichen oder sehr ähnliche Versuche, geben für die gleichen Erkenntnisse Geld aus. Doch nur die Schnellsten können ihren Aufsatz in einer hochrangigen Publikation unterbringen.

Forscher wie Hanke wollen deshalb mit dem alten System brechen. Sie setzen auf Kooperation statt Konkurrenz, auf offene Daten statt Geheimniskrämerei. "Open Science" wird diese Idee auch genannt.

Um seine Messungen für andere noch nützlicher zu machen, erhebt Hanke inzwischen sogar Daten, die er selbst gar nicht benötigt. "Ich habe schnell gemerkt: Ich muss nur ein klein wenig mehr machen, um viele weitere Fragestellungen zuzulassen", erklärt der Psychologe. Er stockte seine Versuche also auf eigene Kosten auf, zeichnete neben Hirnbildern auch den Herzrhythmus, die Atmung und die Bewegungen der Probanden im Scanner auf. 350 Gigabyte an Messdaten hat er bereits ins Netz gestellt, in monatelanger Arbeit gesammelt von hoch spezialisierten Wissenschaftlern, bezahlt mit Tausenden Euro öffentlicher Forschungsgelder.

Das war für Hanke ein wichtiger Punkt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hatte ihm, wie vielen anderen Wissenschaftlern, staatliche Mittel gewährt. Das geschieht nicht, um den Ruf und die Berühmtheit eines einzelnen Wissenschaftlers zu mehren, sondern um allgemein nützliche Erkenntnisse zu gewinnen. Aus diesem Grund liegen die Daten der Magdeburger Arbeitsgruppe nun für alle zugänglich auf einem Server. Jeder kann sie mit kostenloser Software betrachten und analysieren - auch interessierte Laien, wenn sie wollen.

Doch mit seiner Offenheit geht Hanke auch ein Risiko ein: Andere Psychologen könnten die Daten mit den gleichen Fragestellungen analysieren wie er. Und schlimmstenfalls den Artikel zuerst veröffentlichen, den die Magdeburger geplant hatten. "Tatsächlich muss sich der Datenersteller in so einem Fall auf die Fairness der anderen verlassen", sagt Stefan Winkler-Nees von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG. "Doch wir arbeiten daran, Mechanismen für entsprechende Regelwerke umzusetzen." Winkler-Nees leitet seit 2013 ein Förderprogramm zur Informationsinfrastruktur für Forschungsdaten. "Open Science ist ein Begriff, der momentan sehr en vogue ist", sagt er. Diese Entwicklung kommt den Zielen der DFG entgegen: Das Teilen von Daten zum gemeinsamen Erkenntnisgewinn, das klingt nach effizienter Forschungsarbeit.

Wie bei der Wikipedia kann die Masse der Nutzer die Qualitätskontrolle übernehmen

Man könnte es auch als Imagekampagne für Open Science bezeichnen, was Stefan Winkler-Nees und seine Kollegen betreiben. "Wir versuchen, die verschiedenen Institute davon zu überzeugen, dass das Bereitstellen der Forschungsdaten an sich einen Wert hat." Um das Prinzip Open Science weiter zu etablieren, hat die "Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen" schon 2008 eine Schwerpunktinitiative zur "Digitalen Information" gestartet. Eines der Ziele: Den "Mehrwert der Nachnutzung und der Verfügbarkeit von Forschungsdaten" nachzuweisen.

Natürlich gibt es auch einige offene Fragen. Die Qualität der veröffentlichten Daten muss zum Beispiel gesichert und überprüfbar sein. Dafür gibt es verschiedene Lösungsansätze: Ähnlich wie beim Onlinelexikon Wikipedia kann beispielsweise die Masse der Nutzer eine kontrollierende Funktion übernehmen. Michael Hanke konnte so bereits seine Daten verbessern: "Wir haben schon zu frühen Zeitpunkten zwei sehr gute Hinweise bekommen", sagt er. Die Mitstreiter aus der Open Science-Gemeinde haben dem Psychologen also das Forscherleben leichter gemacht.

Auch die wissenschaftlichen Verlage reagieren bereits auf diese Entwicklung zu mehr Offenheit. Ähnlich wie beim "Open Access", einer Publikationsform, die es jedem Interessierten erlaubt, Fachartikel kostenfrei zu lesen, weil der Autor für die Veröffentlichung bezahlt, gibt es inzwischen Überlegungen, aus der Open-Science-Idee ein Geschäftsmodell zu stricken. Die Nature Publishing Group etwa, einer der führenden Wissenschaftsverlage, hat jüngst das Magazin Scientific Data gegründet. Es druckt keine Artikel mit Ergebnissen und Interpretationsteil, sondern sogenannte "Data Descriptors". Das sind bloße Bestandsaufnahmen der Daten und der angewandten Methoden, korrigiert von fachaffinen, qualitätsbewussten Redakteuren. Diese Artikel sind zitierbar. Mehr noch: Wer die bereitgestellten Daten weiter verwenden will, verpflichtet sich, auf den Ersteller zu verweisen. So kann auch der teilungswillige Forscher die Zahl seiner Zitierungen erhöhen - und damit seine Publicity in der Wissenschaftswelt.

Was anderswo mit seinen Hirnbildern gemacht wird, weiß Hanke nicht genau. Sicher kann er nur sagen, dass je eine Arbeitsgruppe aus Australien und England seine Ergebnisse nutzen. Derweil produziert er fleißig weiter: In der nächsten Phase seines Experiments werden die Probanden wieder mit "Forrest Gump" traktiert werden. Dieses Mal mit Bild. Das macht die Messungen aber noch komplexer. Welch ein Glück, dass die Magdeburger Psychologen nicht allein sind mit all ihren Daten.

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