Ökologischer Städtebau:Beete, die in den Himmel wachsen

Von Paris bis Kuala Lumpur werden mittlerweile Hausfassaden bepflanzt. Diese hängenden Gärten sehen schön aus und dämmen gut - doch lohnen sie sich auch finanziell?

Von natur-Autor Holger Fröhlich

Bis zu 3,5 Millionen Menschen sterben einer Studie der Vereinten Nationen zufolge jedes Jahr vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung. Besonders belastet ist die Luft in Großstädten, wo sich berufstäglich Hunderttausende Autos stauen und der natürliche Luftaustausch durch architektonische Barrieren stark eingeschränkt ist. Mit der Einwohnerzahl steigt zudem oft auch die Temperatur einer Stadt, da sich die großflächigen Teer- und Betonflächen im Sonnenlicht stärker aufheizen - und die Wärme länger speichern - als Holz und Gras. Um dem Schmutz- und Hitzeproblem entgegenzutreten, suchen Städteplaner und Wissenschaftler aller Branchen nach Antworten. Eine naheliegende lautet natürlich: Frischluft da erzeugen, wo sie gebraucht wird. Im Herzen der Stadt.

Wie das funktionieren kann, auch wenn kein Platz für einen Park ist, ist in Österreich zu besichtigen. Ausgerechnet am Wiener Abfallamt ist ein Vorzeigeprojekt der Fassadenbegrünung herangewachsen. Eingezwängt von einer vierspurigen Bundesstraße und mächtigen Wohnklötzen mit Balkonen, die neben der Satellitenschüssel kein Grünzeug dulden, blühen dort die Steinnelken. Und nicht nur die: 17 000 Kräuter, Stauden und Gräser haben die Fassade des Verwaltungsgebäudes in eine sechsstöckige Almwiese verwandelt. Selbst im November tänzeln hier noch die Schmetterlinge vor den Fenstern, summen die Sonnenkäfer und stöbern die Bienen in den bunten Blütenkelchen. Im Sommer sind die Beamten hinter den Fenstern zwischen Grasnelken, Lavendel und Thymian kaum mehr zu erkennen.

So schön sie anzusehen ist, die grüne Wand ist mehr als bloße Stadtteilverschönerung. Im Winter soll sie das Haus vor Kälte und übermäßig hohen Heizkosten bewahren, im Sommer kühlen wie der Schatten einer 100-jährigen Linde. Zudem soll sie die Fassade schützen, Lärm fernhalten, Feinstaub filtern und dabei Sauerstoff erzeugen. Kurz: Geld sparen und das Klima retten. Eine Win-win-Situation auf 850 Quadratmetern.

Aus natur 08/2016

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  • natur 08/2016

    Der Text stammt aus der August-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 08/2016 auf natur.de...

Die Idee klingt sehr vielversprechend. Trotzdem war sie in dieser Größe bis vor kurzem noch reine Theorie; es fehlten Vorbilder, Vergleichsobjekte und Langzeitstudien. Dass sich das Abfallamt heute trotzdem von der abgasgrauen Tristesse am Rande des fünften Bezirks abhebt, ist ihrem Baureferatsleiter Karl Schwaiger zu verdanken. Als die Fassade des Nachkriegsbaus zu bröckeln drohte, entschied er sich im Januar 2010, trotz der Unsicherheiten, für die grüne Fassade. Weil er sich als "Öko" sieht, wie er sagt, und weil ihn das System schlicht fasziniert.

Für 400 000 Euro ließ Schwaiger die mächtige Häuserfront mit Tausenden Pflanzentrögen behängen - und erhöhte den Grünflächenanteil des gesamten Bezirks damit um fast ein Prozent. Eine konventionelle Sanierung des ungedämmten Ziegelbaus wäre nur unwesentlich billiger gewesen. Dicht und grün liegt die neue Fassade heute über der alten. Karl Schwaiger hätte Anlass zum Triumph. Doch er ist nicht der Typ, der seine Begeisterung offen zur Schau trägt. Er sagt nur: "Wir wollten zeigen, dass es funktioniert. Und jetzt funktioniert's."

Wie gut, das zeigen Messungen der Universität für Bodenkultur Wien. Im Hochsommer sind die Räume des Abfallamtes rund 15 Grad kühler als die der Nachbarschaft - eine Leistung, für die 50 Klimaanlagen acht Stunden am Tag auf Hochtouren laufen müssten. Im Winter dagegen mindert die Pflanzenwand den Wärmeverlust des Hauses um die Hälfte. Wie viel Geld das spart, lässt sich nicht sagen, da das Amt bis zur Sanierung keinen eigenen Gaszähler hatte und niemand den alten Verbrauch kennt. Die Winterdämmung entspricht jedenfalls einem zwei Zentimeter dicken Vollwärmeschutz, erklärt Schwaiger. Das Luftpolster des handbreiten Spalts zwischen Mauerwerk und Pflanzen wärmt das Gebäude wie eine Daunenjacke.

Gunter Mann vom Fachverband für Bauwerksbegrünung (FBB) in Saarbrücken freut sich über das neu aufkeimende Interesse an den grünen Wänden. Seit 26 Jahren wirbt er mit seinem Verband für eine bessere Zusammenarbeit von Natur und Architektur - doch lange Jahre beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit. "Bei einer grünen Hauswand dachten die meisten Leute an Ungeziefer, Undichtigkeit und Sanierungskosten", sagt der promovierte Biologe. Dass es diese Probleme bei einem fachgerechten Umbau nicht gebe, sei lange Zeit schwer zu vermitteln gewesen.

Doch dann kamen, vor allem durch die Arbeiten des französischen Botanikers Patrick Blanc, die Pflanzenwände in Mode - und plötzlich interessierten sich alle für lebende Hauswände. Blanc, der sich eines Patentes aus dem Jahr 1938 bediente, wurde bekannt durch seine vertikalen Beete, die - ohne Kontakt zum Erdreich - über Zeitschaltuhren und Bewässerungsrohre ernährt werden. Sein berühmtestes Begrünungswerk dürfte das Pariser Musée du Quai Branly unweit des Eiffelturms sein.

Viele Hausbesitzer sind skeptisch - sie fürchten Schäden am Gebäude

Gunter Mann vom FBB steht dem neuen Trend zur Pflanzenwand zwiespältig gegenüber: Der Verbandschef in ihm freut sich natürlich über den Marketing-Effekt der living walls, der "lebenden Wände", die kürzlich jedes Fachmagazin schmückten und seiner Branche neuen Aufwind geben. Der Biologe in ihm aber mahnt zur Mäßigung der Erwartungshaltung: "Sicher, die Artenvielfalt, die Dämmleistung, das bessere Klima, schön und gut. Aber das sind alles weiche Faktoren." Streng betriebswirtschaftlich gerechnet, lohne sich der Aufwand in der Regel eher nicht.

Er mag die hochtechnisierten, senkrechten Wiesen, aber lieber noch hat er die altgedienten bodengebundenen Systeme, wie sie schon die Großeltern hatten. Die sind einfacher. "Und die gibt's schon so lange es Wein und Efeu gibt", sagt Mann. Doch so gerne Passanten beim Vorbeigehen die grünen Häuser bestaunen, so angstvoll ziehen Hausbesitzer ihre Brauen zusammen, wenn sie an die Haftfüße des Efeus und an die Kletterspuren des Wilden Weins an ihrem handsanierten Fachwerk denken.

Also drückt der Biologe Mann ein Auge zu und freut sich über die neuartigen Wiesen, die vielerorts an den Wänden sprießen - seien es großflächige Begrünung wie die am Bonner St.-Marien-Hospital oder augenfällige Designs wie das blühende Plakat über dem Eingang der Galeries Lafayette in Berlin. Hinter dem bemerkenswerten Anblick steckt stets eine ähnliche Technik wie hinter dem großen Bruder aus Wien. Und die hat es in sich, denn im Gegensatz zu bodengebundenen Systemen müssen die autonom lebenden Wände ohne Kontakt zum Erdreich auskommen. Dafür braucht es ausgeklügelte Bewässerungssysteme. Und Erfahrung.

Dass man dabei eine Menge falsch machen kann, musste auch das Vorzeigeobjekt am Wiener Abfallamt lernen. Anfangs wurden dort die Pflanzen mit einer einfachen Zeitschaltuhr bewässert: Im Sommer öffnete sich der Hahn täglich zehn Minuten und im Winter blieb er geschlossen. Geschützt durch die nahe Hauswand aber lagen die Wurzeln selbst bei Schneefall manchmal noch in 25 Grad warmem Substrat. Wie im Gewächshaus erlebten die Pflanzen dadurch einen zweiten Frühling und blühten im Winter noch einmal. Der Zeitschaltuhr war das egal: Der Hahn blieb zu und die meisten Pflanzen wurden zu Biomüll.

Mittlerweile ist Gras über den Zwischenfall gewachsen, denn anstelle der einfachen Zeitschaltuhr hat ein intelligentes Bewässerungssystem die Arbeit übernommen. "WiseWater" misst die Bodenfeuchte unter den Setzlingen und gibt ihnen exakt so viel Wasser, wie sie brauchen - zur Not dreimal am Tag. Obwohl an einem Sommertag bis zu 2000 Liter fließen, rinnt kein Tropfen in den Abguss. Und wo es kein Abwasser gibt, müssen auch keine Abwassergebühren bezahlt werden.

Das System des Wiener Start-ups Adaptiva hat dem Amt damit durch die Reduzierung des Wasserverbrauchs und der Neubepflanzung eine jährliche Nebenkosteneinsparung von knapp 1000 Euro beschert und die Pflanzen schon durch den zweiten Winter gebracht. Der Gärtner, der jedes Frühjahr mit der Hebebühne anrückt, muss seither nur noch stutzen, nicht mehr pflanzen. Adaptiva-Gründer Georg Simhandl sagt: "Pflanzen zu säen, ist das eine, sie am Leben zu halten das andere." Auf das andere hat er sich spezialisiert.

Drei Millionen Datensätze kommen im Jahr zusammen

Dabei hatte der Wirtschaftsinformatiker mit Pflanzen ursprünglich nichts am Hut. Nach seiner Promotion entwickelte er ein System, um die Wege ahnungsloser Kunden im Kaufhaus aufzuzeichnen. Dazu zapfte Simhandl mit legalen Mitteln schlecht gesicherte Handys an und speicherte ihre Bewegungen beim Shopping. Der Job war gut bezahlt, doch mit der Geburt seiner Tochter meldete sich sein Gewissen und er kündigte.

Heute stellt er zusammen mit mittlerweile fünf Mitarbeitern smarte, vernetzte Recheneinheiten zur Bewässerung her. Das Herzstück seiner Entwicklung, eine unscheinbare Platine, passt in eine Streichholzschachtel. Sechs dieser Minirechner hat er in den Trögen des Wiener Abfallamtes verteilt. Rund um die Uhr messen sie die Umgebungsdaten und errechnen daraus einen Gießvorschlag. Den senden sie an den Großrechner von Adaptiva, der ihn mit den anderen Sensoren abgleicht und auf Basis aller Vorschläge eine Gießanweisung zurückschickt. "Wir sind das Gehirn für den Wasserhahn", sagt Simhandl.

Allein die Kleinstrechner vom Müllamt im fünften Wiener Bezirk liefern jedes Jahr über drei Millionen Datensätze an die Rechenzentrale. Mit jeder Messung wird das System klüger. Das gesammelte Pflanzenwissen kommt inzwischen schon 35 Kunden in Europa und Nordafrika zugute.

Nach fünf Jahren Aufbauarbeit konnte Adaptiva 2015 erstmals einen Gewinn ernten. Und schon bald wird seine Arbeit noch größere Früchte tragen, ist Simhandl überzeugt. Schließlich könne es nicht mehr lange dauern, bis sich die EU mit ihrem Verbot der herkömmlichen, umweltschädlichen Styropordämmung endlich gegen die Lobbyisten der Industrie durchsetze. Damit dereinst die grünen Wände in den Himmel wachsen, sammelt er mit seinen Hauswandsonden weiter bienenfleißig Daten.

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