Neutrinos schneller als das Licht:Große Zweifel trotz guter Daten

Die Lichtgeschwindigkeit übertroffen, eine unbekannte Urkraft entdeckt, Hinweise auf Higgs-Teilchen gefunden, die Dunkle Materie aufgespürt - wird 2011 für Physiker das Jahr der Wunder? Die Wissenschaftler sind skeptisch.

Patrick Illinger

Endlich mal eine physikalische Entdeckung, die auch Nichtphysiker verstehen können. Endlich mal geht es nicht um kosmische Extradimensionen, Superstrings oder exotische Quantenphysik.

Vom größten Teilchenbeschleuniger der Welt aus, dem sogar aus einem Dan-Brown-Roman bekannten Cern bei Genf, wurden winzige Partikel quer durch die Erdkruste geschossen und unter einem Granitberg in Süditalien wieder aufgefangen.

Nun zeigen die Messdaten, dass manche dieser Teilchen, Neutrinos genannt, die Wegstrecke schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zurückgelegt haben müssen. Für Physiker ist das eine ungeheuerliche Beobachtung, schließlich ist die Lichtgeschwindigkeit nicht irgendeine Schallmauer, die man mit einem Düsenflugzeug durchbrechen kann.

Die Lichtgeschwindigkeit ist, seit Albert Einstein 1905 die Relativitätstheorie formulierte, das unveränderliche Maß aller Dinge. Der gesamte Kosmos ist biegsam, stellte Einstein fest, Zeit und Raum können gedehnt und gestaucht werden, und im gesamten Weltraum gibt es keine herausgehobenen Orte, kein Zentrum, keinen Rand und weder Oben noch Unten.

In diesem kosmischen Gefüge ist lediglich die Lichtgeschwindigkeit eine Konstante, sie trennt Vergangenheit und Zukunft. Nichts, aber auch gar nichts kann schneller als das Licht fliegen, stellte der große Physiker fest. Dieses Weltbild ist in den vergangenen 107 Jahren unzählige Male experimentell bestätigt worden.

Heute sind Navigationsgeräte nur ein Beispiel für viele Technik-Innovationen, die nur funktionieren, weil die Relativitätstheorie einbezogen wird.

Insofern ist verständlich, was es unter Physikern auslöst, wenn experimentelle Daten besagen, die Lichtgeschwindigkeit sei übertroffen worden. Erstaunlich ist zudem, wie viele physikalische Wunder ähnlicher Größenordnung sich in diesem Jahr bei Elementarteilchen-Experimenten bereits angedeutet haben.

Im April meldeten Forscher des amerikanischen Teilchenbeschleunigers Fermilab Anzeichen für eine ominöse, bisher unbekannte neue Urkraft. In Protonen-Zusammenstößen am Cern meinten Physiker im August Hinweise auf das Higgs-Teilchen gefunden zu haben, ein Partikel, das seit mehreren Jahrzehnten gesucht wird und erklären könnte, warum die Bausteine des Universums so unterschiedlich viel Masse besitzen.

Anfang September berichtete eine tief unter dem italienischen Gran Sasso arbeitende Gruppe, ihr Detektor habe womöglich Dunkle Materie aufgespürt, von der Astronomen vermuten, dass sie den gesamten Weltraum erfüllt.

Und nun, keine drei Wochen später, fliegen Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit. Sollten sich alle diese Erkenntnisse bewahrheiten (und das Jahr ist noch nicht zu Ende), so würde 2011 als Jahr der Wunder in die Annalen der Physik eingehen, als annus mirabilis, welches 1905, das legendäre Schöpfungsjahr Albert Einsteins noch weit überbieten würde.

Wo bleibt also die Euphorie? Warum sagen namhafte Theoretiker wie der amerikanische Physiker und Bestsellerautor Brian Greene, sie würden fast ihren gesamten Besitz darauf verwetten, dass sich die Existenz der überlichtschnellen Neutrinos in künftigen Messungen nicht bewahrheiten wird? Sind neuerdings Scharlatane und Großmäuler in der Physik am Werk?

Die Antwort hierauf ist Nein. All die genannten Gruppen haben mit Sorgfalt betrieben, was jeder Physikstudent bereits im ersten Jahr eingebläut bekommt: die genaue Analyse der Messungenauigkeit.

Zuverlässige oder zufällige Daten

Zentrales Maß für die Zuverlässigkeit eines Messeffekts ist dabei die Wahrscheinlichkeit, dass die ganze Datenlage nur ein Zufall ist. Und das nehmen Physiker sehr genau: So gilt die Daumenregel, einen Messeffekt erst dann ernst zu nehmen, wenn die Zufallswahrscheinlichkeit unter die Marge von eins zu 370 sinkt.

OPERA experiment indicates faster than light particles

Experimente am Cern bei Genf bringen neue Erkenntnisse - aber manche Daten müssen mit großer Vorsicht interpretiert werden.

(Foto: dpa)

Von einer Entdeckung wird seriöserweise erst gesprochen, wenn die Zufallshypothese eine Wahrscheinlichkeit von weniger als eins zu 17,5 Millionen hat. Die Neutrino-Messung übertrifft nach Angaben der beteiligten Wissenschaftler diese Kriterien. Voilà also: quod erat demonstrandum?

Leider nein, die stochastisch wasserdicht wirkende Datenlage stößt bei Fachkollegen in aller Welt dennoch auf Skepsis. Sogar die Mitglieder der Neutrino-Gruppe selbst weigern sich, die Konsequenz ihrer Messungen klar auszusprechen, manche wollten gar ihren Namen von der Veröffentlichung streichen. Und die Zweifel betreffen nicht nur das Neutrino-Experiment.

Die fünfte Urkraft aus dem Femilab gilt in Fachkreisen bereits als beerdigt. Die Higgs-Hinweise aus dem Cern basieren derzeit noch auf einer umständlichen, indirekten Messung. Am solidesten wirken noch die Gran-Sasso-Daten zur Dunklen Materie. Doch von Heureka-Geschrei ist auch dort nicht viel zu hören. Zu schwer wiegt die Erfahrung, dass in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig spektakuläre (und statistisch mit einem Zufall kaum vereinbare) Messeffekte wieder spurlos verschwunden sind.

Die Gründe dafür sind nicht immer eindeutig. Manchmal wird in den durchaus komplizierten Messanordnungen ein Faktor übersehen, der die Ergebnisse systematisch verzerrt. Auch werden Rohdaten oft gefiltert, damit vermeintlich sinnlose Messwerte entfallen.

Womöglich hat dieser Prozess manchmal ungeahnten Einfluss auf die verbleibenden Messpunkte. Würde man von Physikern jedenfalls verlangen, jetzt entweder auf die Existenz überlichtschneller Neutrinos zu wetten oder riskante Wertpapiere zu kaufen, so mancher würde griechische Staatsanleihen vorziehen.

Natürlich gehört es zum ureigenen Wesen der Wissenschaft, dass Experimente Vermutungen anregen, die durch weitere Experimente widerlegt werden. Aber die Häufigkeit, mit der sich Messeffekte in den vergangenen Jahrzehnten wieder aufgelöst haben, macht nachdenklich. Alleine das Higgs-Teilchen ist mindestens ein Dutzend Mal aufgetaucht und wieder verschwunden.

In anderen Wissenschaftsdisziplinen ist dieses in vieler Hinsicht mysteriöse Phänomen als "Decline Effect" bekannt. Dabei geht es um Experimente, die anfangs ein klares Signal zeigen, das aber mit zunehmender Datenmenge wieder abnimmt. Ursprünglich aus der Psychologie bekannt, wo die Datenerfassung häufig vom menschlichen Ermessen abhängt, hat sich der Decline Effect auch in der Biologie und Genetik verbreitet.

Berüchtigtes Beispiel ist die lange gehegte These, wonach Weibchen in der Natur tendenziell symmetrisch gebaute Männchen bevorzugen. Am Anfang der 1990er-Jahre schienen mehrere Experimente dies zu bestätigen, bis hin zu der Erkenntnis, dass Frauen mit symmetrisch gebauten Männern mehr Orgasmen erleben. Spätere Versuchsreihen ließen die zeitweise als unumstößlich geltende Wahrheit zur Legende zusammenschnurren.

Kann es sein, dass auch in der vermeintlich harten Physik gelegentlich Wunschdenken in Detektoren und Datenanalyse einfließt?

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