Neues altes Mittel gegen Malaria:Ein Kraut gegen den Killer

Seit Jahrhunderten bekannt, jetzt endlich angewandt - im tiefsten Inneren Chinas wächst eine Pflanze, die Afrika retten könnte.

Von Kai Strittmatter

Youyang, im Dezember - Bergland ist das hier, behaust von Bergmenschen. Im Innersten des Landes. So schön wie vergessen - bislang. Bevor klar war, dass das hier einmal der Mutterboden Welt bewegender Kunde sein würde, eines alten Krauts wegen.

Malariamücke, dpa

"So viele Leben hätten gerettet werden können" - Menschheitsgeißel Malaria. Hier eine Malariamücke

(Foto: Foto: dpa)

Die Bauern sind meist vom Volk der Tu, Nachkommen eines mächtigen Reiches, das einst das heutige Sichuan beherrschte. Ein die Schluchten durchgrabender Fluss war früher das Band zu den Menschen der Ebene; erst seit dem Vorjahr gibt es die Straße, die den Weg in die Jangtse-Metropole Chongqing auf gerade mal acht Stunden verkürzt hat. Struppiges Wintergrün duckt sich auf den Feldern - im Sommer stehen sie hier übermannshoch, die kostbaren Büsche.

Was ist es bloß, das gerade diesen Flecken im Südwesten des Landes so besonders macht? Der Mann, der es eigentlich wissen sollte, zuckt mit den Schultern: "Das Zeug wächst ja überall", sagt Pan Weiming, Chef der Plantagen der Firma Holley. "Aber warum nirgendwo anders so viel Wirkstoff aus der Pflanze herauszuholen ist wie hier am Wuling-Berg - wir wissen es bis heute nicht."

Kommt unspektakulär farngleich daher

Die Pflanze, der Lebensretter, sie trägt den Namen "Artemisia Annua" - einjähriger Beifuß. Der Stamm gehüllt in einen schimmernden Pelz von grauen Härchen, gelbgrüne Blüten im Sommer.

Kommt unspektakulär farngleich daher. Und doch wussten hier einige um seine geheimen Kräfte. Die Bäuerin Li Guoping zum Beispiel, die unter ihrem schwarzen Regenschirm zwischen den Feldern einher stakst wie eine dem Sturm trotzende Krähe, die hat sich manches Mal in ihren 68 Jahren einen Sud gekocht aus dem "Bitterkraut", wie sie es hier nennen.

Wenn sie sich geschnitten hatte zum Beispiel, stoppte der Saft die Blutung. Und für die Haut war er gut. Ja, die Malaria, die habe hier auch gewütet, wenn auch nur "früher, vor der Befreiung durch Mao Zedong".

Haben sie da auch zum Beifuß gegriffen? "Leider wussten nur die wenigsten, ihn anzuwenden", erinnert sich Liu: "Die Leute starben einfach."

Das Wunder von Youyang

Die Leute sterben einfach. Auch im Präsens ist der Satz noch gültig. Nicht mehr für Youyang, nein. Aber für einen großen Teil der Welt. Mehr als 300 Millionen Menschen tragen Malaria-Parasiten in ihrem Blut.

Zwischen einer und zwei Millionen erliegen ihnen jährlich - meist Kinder unter fünf Jahren. Werden heimgesucht von Fieberschüben und Schüttelfrost, von Lungenödemen und Nierenversagen, von Koma und Tod. Und könnten doch alle leben.

In ihrem Büro in Peking sitzt eine wache Frau von 73 Jahren, trägt eine Strickjacke voller kräftiger roter Rosen und setzt ihre Worte voller Leidenschaft. "Warum nur?", fragt sie, "warum tötet Malaria so viele Millionen Menschen? Wo wir es doch heilen können."

Die Frau heißt Tu Youyou und ist Professorin an der Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin. China war noch das Reich des Mao Zedong, als sie auf den Stoff stieß, der Malaria heilt: Artemisinin.

Ein Extrakt der Artemisia-Staude, die sie in China "qinghao" nennen. Die Pflanze, die in Youyang so heilbringend wächst wie nirgendwo sonst, mit einem Artemisinin-Gehalt von bis zu einem Prozent. Die Pflanze, die nun einer Region Wohlstand bringen soll und einem ganzen Kontinent die Rettung vor einem alten Killer.

In diesem Jahr nämlich ist es passiert: Fast vier Jahrzehnte, nachdem Professor Tu und ihre Kollegen begannen, dem Artemisinin nachzuspüren, drei Jahrzehnte, nachdem sie seine Wirksamkeit erkannten und mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem sie ihre Entdeckung der Welt als Geschenk anboten, haben die Weltgesundheitsorganisation WHO und ihre Partner entschieden: Der Stoff aus Chinas Bergen ist die neue Waffe der Welt gegen Malaria.

Neun von zehn Malariakranken leben heute in Afrika; die Staaten dort, die auf finanzielle Unterstützung hoffen in ihrem Kampf gegen die Krankheit, müssen das Geld fortan für Kombipräparate auf der Basis von Artemisinin ausgeben.

Es ist eine Kehrtwende, und Professor Tu ist stolz: "Medizin war immer Teil unserer Tradition", sagt sie. "Dies ist das erste Mal, dass der Westen ein chinesisches Präparat anerkannt hat. China hat der Welt etwas zu geben."

Gleichzeitig macht Tu keinen Hehl aus dem Frust, den die chinesischen Wissenschaftler empfanden, die ihren Fund so lange ignoriert sahen. "Es ist eine Schande", sagt Tu. "Tausende von Kindern sterben jeden Tag. So viele Leben hätten gerettet werden können."

Wie sie in China auf die wundersame Substanz stießen, ist eine Abenteuergeschichte für sich.

Ein Kraut gegen den Killer

Es ist nicht so, dass Professor Tu und ihre Kollegen die wahren Entdecker des Artemisinin wären, dafür kamen sie etwa zwei Jahrtausende zu spät, sie waren eher pharmazeutische Archäologen, die lange vergessenes Wissen wieder ausgruben.

Und Schuld daran - solch seltsame Umwege nimmt die Geschichte - hatte Ho Chi Minh, der ziegenbärtige Vietcong-Führer, dem in den malariaverseuchten Dschungeln Vietnams mehr Guerillakämpfer auf dem Krankenbett wegstarben als im Kampf gegen die US-Truppen.

Sozialistische Bruderhilfe

Ho Chi Minh also sprach in Peking vor und bat den Vorsitzenden Mao Zedong und seinen Premier Zhou Enlai um sozialistische Bruderhilfe. Mao und Zhou riefen 1967 das geheime "Projekt 523" ins Leben, so benannt nach dem Datum seiner Gründung am 23. Mai.

Mehr als 500 Wissenschaftler aus ganz China nahmen teil an dem Projekt - für die Medizinerin Tu Youyou war es eine Oase wissenschaftlicher Rationalität inmitten des Irrsinns der Kulturrevolution (1966-1976), die ihr auch schon den Schlachtruf "Besiegt Malaria mit den Mao-Zedong-Gedanken" diktiert hatte.

Tu und ihr Team durchforsteten Jahrtausende alte Medizintexte. Im Jahr 1969 erstellten sie eine Liste von 640 traditionellen chinesischen Rezepten, und noch einmal drei Jahre später filterten sie schließlich ein Heilkraut heraus: Artemisia.

In einem "Handbuch für Notfall-Behandlungen" im 4. Jahrhundert nach Christus wird das Extrakt der Pflanze erstmals als Medizin gegen Malaria erwähnt: "Gib eine Hand voll davon in zwei Tassen Wasser und trinke es", zitiert Tu den Text.

Als Professor Tu überzeugt war, das richtige Mittel gefunden zu haben, tobte noch die Kulturrevolution. Erst 1979 begannen klinische Tests, die bis heute zeigen, dass Artemisininpräparate mehr als 90 Prozent (die Chinesen sagen: mehr als 97 Prozent) aller Patienten heilen - auch solche, die längst gegen die gängigen Präparate des Westens resistent sind.

Und im Jahr 1982 gab es ein Treffen chinesischer Wissenschaftler mit Abgesandten der WHO in Peking. Die Chinesen berichteten. Die WHO war interessiert. Und unternahm zwanzig Jahre lang - nichts.

Krankheit der Armen

Jahre, während derer die herkömmlichen Malariamittel Chloroquin und Pyrimethamin-Sulfadoxin langsam aber sicher wirkungslos wurden: In Staaten wie Tansania und Kenia sind nach Angaben von "Ärzte ohne Grenzen" mittlerweile 90 Prozent der Malaria-Erreger gegen Chloroquin resistent. Bei Artemisinin ist von Resistenzen bislang nichts bekannt.

Warum hat die Welt dann so lange gebraucht, bis sie das neue Mittel anerkannte? Skepsis gegenüber der so lange abgeschotteten und von Mao in Trümmern gelegten chinesischen Forschung war ein Grund. "Viele im Westen dachten: ,Ein pflanzliches Präparat? Aus China? Meine Güte, wie gut kann das schon sein?'", meint Anna Wang vom gemeinnützigen "Medicines for Malaria Venture" in Genf.

Wie ein roter Faden jedoch zieht sich durch die Geschichte der Malaria-Bekämpfung ein tieferes Problem, das der in Thailand arbeitende Brite Nick White beschreibt, ein anerkannter Malaria-Fachmann: "Es ist eine Krankheit der Armen, der Bauern."

Der Leute also, bei denen für die Pharmaindustrie kein Geld zu holen ist; der Leute, deren Probleme zu ignorieren sich die Reichen meinen leisten zu können. "Malaria hat keine Lobby", sagt Nick White.

Würde Malaria die Europäer und Amerikaner heimsuchen, glaubt er - niemals hätten sie so lange die alten Medikamente toleriert, die man im Falle Afrikas für gut genug hielt.

Medizinische Fahrlässigkeit

Die Verfechter des Status Quo hielten noch an einem anderen Argument fest: Eine Dosis Chloroquin kostet 10 bis 25 Cent - eine Dosis der neuen Artemisininpräparate das Zehn- bis Zwanzigfache.

Professor Tu reagiert auf dieses Argument ein wenig fassungslos: "Was nützt es, wenn ein Medikament billig ist - wenn es nicht wirkt?" Tu war mit dieser Frage nicht allein: Im Januar diesen Jahres erschien im britischen Medizinjournal Lancet ein scharfe Attacke auf die WHO und den "Global Fund to fight Aids, Tuberculosis and Malaria", über den die internationalen Gelder zum Medikamentenkauf laufen.

Die Autoren ziehen die Organisationen grober "medizinischer Fahrlässigkeit", weil sie noch immer die alten Medikamente unterstützten. Zufall oder nicht - drei Monate später verkündeten die WHO, der Global Fund, Unicef und andere Geldgeber ihren Marschbefehl an Afrikas Malaria-Länder: Sie sollten von nun an Artemisinin-Kombinationspräparate kaufen.

Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Jetzt herrscht Krach an einer anderen Front: Blitzartig schnellte die Nachfrage nach dem Rohmaterial hoch - und der Preis. Es kann nicht genug geliefert werden.

"Die Krise ist das Resultat fürchterlich schlechter Planung", sagt Anna Wang vom Genfer "Medicines for Malaria Venture" (MMV): "Man kann nicht einfach rufen 'Wir brauchen das!' und erwarten, dass es wie durch ein Wunder über Nacht erscheint.

Für dieses Jahr hatte die WHO nur ein paar Millionen Dosen bestellt - und für nächstes Jahr wollen sie plötzlich 50 Mal soviel!" Nämlich 84 bis 140 Millionen Behandlungs-Einheiten.

Nun zeigen alle mit dem Finger aufeinander: Die WHO auf ihren Hauptlieferanten Novartis, der das Medikament "Co-Artem" herstellt; Novartis auf seinen Rohstofflieferanten, die chinesische Firma Holley.

Nelson Tan, medizinischer Direktor bei Holley, weist Vorwürfe zurück, sein Unternehmen horte Artemisinin, um den Preis künstlich hochzutreiben: "Es ist nun mal eine Pflanze", sagt Tan: "Die wird im Januar gepflanzt und Monate später geerntet. Das heißt, wir brauchen unsere Aufträge rechtzeitig."

Ein Monopol für vier Jahre

Schon gibt es Labore, die daran arbeiten, Artemisinin synthetisch herzustellen: Die Medikamente würden auf einen Schlag billiger und könnten in unbegrenzter Menge hergestellt werden.

"Aber das dauert noch mindestens vier, fünf Jahre bis zur Anwendung", sagt Anna Wang vom MMV. Das ist die Zeit, die den Bergbauern von Youyang bleibt. Und der Firma Holley. Fast der gesamte Artemisia-Anbau der Welt findet im Moment in den Bergen Chinas und Vietnams statt.

In China hat das Hangzhouer Unternehmen Holley Pharmaceuticals mit seinen beiden Plantagen mehr als zwei Drittel Marktanteil - ein Quasi-Monopol. In den Bergen von Youyang mühen sie sich nun, den Rufen nach dem Extrakt nachzukommen.

Für jedes Kilogramm Artemisinin braucht Holley 100 Kilo getrockneter Blätter. Zwölf Tonnen produzierte die Firma in diesem Jahr. "Im nächsten Jahr sind 60 Tonnen realistisch", meint Nelson Tan, der begeistert von seinem Produkt erzählt: "Artemisinin tötet mehr als 90 Prozent der Parasiten schon am ersten Tag. Wir sind die Bomber in diesem Krieg- danach kann man die Artillerie schicken."

Irgendwann möchte Holley mehr sein als nur Rohstofflieferant, nämlich das erste chinesische Pharmaunternehmen, das den Sprung ins Ausland schafft: Die Firma hat ihr eigenes Kombipräparat entwickelt und antichambriert damit längst bei Afrikas Regierungen.

Zuhause am Wuling-Berg sind die Holley-Leute derweil den ganzen Tag auf den Beinen, um immer neue Bauern zu überzeugen, statt Mais und Kartoffeln lieber Beifuß zu pflanzen. 50000 haben sie schon verpflichtet mit der Aussicht auf bis zu 20 Prozent höheren Verdienst: Bauern wie den risikofreudigen Dan Dongshen, der gleich das Land von 50 Nachbarn mitgepachtet hat: "Hasenfüße sind das", sagt er über seine Nachbarn, die dem plötzlichen Artemisia-Boom noch nicht so recht trauen.

"Ich lese gerne Zeitung", erzählt der 31-jährige Dan. "Und da stand: Die Welt braucht Artemisia. Und unsere Pflanzen sind die besten." Gerade hat er sich ein neues Motorrad gekauft, und zwar kein billiges chinesisches, nein: eine Yamaha. Stolz posiert er vor der Maschine. "Menschen zu helfen, ist doch eine schöne Sache", sagt er.

Das findet auch Professorin Tu Youyou, deren bahnbrechende Forschung im Jahre 1982 ebenfalls honoriert wurde: mit 200 Yuan (20 Euro) und einer Ehrentafel. Gerade, sagt sie, arbeite sie an einem neuen Medikament auf der Basis von Artemisinin. Ruhestand? Herrje, sagt sie, keine Zeit.

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