Neue EU-Richtlinie:Die Nuckel-Norm

Nur das Beste für die Kleinen: Die EU will Kinderbücher sicherer machen und bringt damit die Verlage ins Schwitzen.

Ijoma Mangold

Die Sprachphilosophie wusste es schon lange: Nur unsere Begriffe entscheiden darüber, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen. Das klingt auf den ersten Blick etwas gewollt, ist aber keineswegs so abwegig. Definitionsfragen führen immer ins Herz jeder Auseinandersetzung. In diesen Tagen zum Beispiel wird in Brüssel die Spielzeug-Richtlinie unter Federführung Günter Verheugens neu gefasst.

Kinderbuch

Die Sicherheit des Nachwuchses ist das höchste Gut und ein moralischer Selbstläufer. Deswegen ist man in Brüssel auch fest entschlossen, Kinder-Pappbücher genauso wie anderes Spielzeug zu behandeln.

(Foto: Foto: dpa)

Das könnte erhebliche Konsequenzen für Papp-Bilderbücher für unter Dreijährige haben. Die entscheidende Frage dabei lautet: Sind Papp-Bilderbücher Spielzeug oder nicht? Denn wenn sie Spielzeug wären, dann müssten sie künftig denselben verschärften Belastungsproben und Materialprüfungen unterzogen werden wie zum Beispiel Teddybären oder Ringel-Rasseln.

Das muss man erst mal überleben

Die alarmierte Kinderbuchbranche besteht deshalb darauf, dass es sich bei Papp-Bilderbüchern nicht um Spielzeug handle. Nur so kann sie ihren Produkten etwa die Drehmoments-Prüfung ersparen. Dabei wird ein zangenartiger Metallfinger an dem zu prüfenden Gegenstand angebracht und dann fünf Sekunden erst mit, dann fünf Sekunden gegen den Uhrzeigersinn um 180 Grad gedreht. Das muss man erst mal überleben. Handelt es sich bei dem Objekt um ein Buch, ist in der Regel am Ende eine Ecke ab. Ein sogenanntes verschluckbares Kleinteil ist die Folge, welches der kindliche Leser verspeisen könnte.

Nun ist die Sicherheit des Nachwuchses natürlich das höchste Gut und ein moralischer Selbstläufer. Deswegen ist man in Brüssel auch fest entschlossen, Kinder-Pappbücher genauso wie anderes Spielzeug zu behandeln. Doch von den Verlagen kommt Widerstand: Sie halten diesen bürokratischen Vorgang für vollkommen absurd, nur der berühmten EU-Gurke vergleichbar, und bangen um die Zukunft eines alten Buch-Typs.

Beim Frankfurter Börsenverein und beim Ravensburger Verlag, der 1904 das erste Kinder-Pappbuch herausbrachte, bestreitet man nicht, dass Kinder stärker als Bücher sind. Um das Kräfteverhältnis umzukehren, müsste man das Material aber massiv verstärken. Das würde, sagt Renate Herre, Geschäftsführerin von Ravensburger, Bücher schwer, unfunktional und hässlich machen.

Speichel ist eine aggressive Substanz

Bücher mit Schiebeelementen wären unter diesen Umständen überhaupt nicht mehr herstellbar. Aber selbst ein materialverstärktes Grabplatten-Buch ist verwüstbar. Speichel ist nämlich eine aggressive Substanz. "Wenn ein Kind eine Buchecke lange genug einspeichelt, dann lösen sich Papierschichten nun einmal ab", sagt Herre. Vor dem kindlichen Nuckelreflex ist nichts sicher.

Die Verlage gehen deshalb einen anderen Weg: Sie sorgen lieber dafür, dass alle Substanzen, aus denen ein Buch gemacht ist, gesundheitlich unbedenklich sind. Ein Stückchen Pappe ist dann keine Herausforderung für den Stoffwechsel. Kinderärzte bestätigen das: Der Tod durch einverleibte Lektüre steht nicht oben auf der Liste der Kinderunfälle.

Am Montag wird die neue Richtlinie aller Wahrscheinlichkeit nach beschlossen. Dann bleibt den betroffenen Verlagen nur noch der Weg zu den Norm-Instituten CEM und DIN, um über angemessenere Prüfverfahren zu reden. Man will eine sinnvolle Prüfung, die der "Praxis im Kinderzimmer" gerecht wird. Denn von Papier und Pappe gehe nun einmal eine geringere Gefahr aus als von Plastik. Aber ob mit oder ohne Papp-Bilderbücher: Das verschlucksichere Kinderzimmer dürfte eine furchteinflößende Utopie bleiben.

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