Naturkundemuseen:Das Gedächtnis der Erde

Jeder Fund ein Datenpunkt in der Geschichte des Planeten: In den Archiven von Museen verstauben gewaltige Schätze des Wissens - nun sollen sie gehoben werden.

Hanno Charisius

An der Erde vorbei, durchs Universum und dann rechts abbiegen zu den Tieren. So verabredet man im Berliner Museum für Naturkunde einen Treffpunkt.

"Sie wollen Schätze sehen", fragt Direktor Reinhold Leinfelder und steuert mit großen Schritten durch die Ausstellung auf eine unscheinbare Holztür am hinteren Ende des Evolutions-Saals zu. Dahinter ein Gang und ein weiterer Schlüssel öffnet die Tür in eine muffige Halle.

Schwarze Farbe an den Fenstern hält das Sonnenlicht draußen. Nachdem die Neonlampen aufgeflackert sind, zeigt sich in breiten Regalen, was Berlins regierender Bürgermeister Klaus Wowereit einmal als "die größte Alkoholsammlung der Stadt" bezeichnet hat:

280.000 Gläser mit Fischen, Amphibien, Reptilien und Spinnen aus der ganzen Welt, konserviert in 90.000 Litern Alkohol. "Und das ist nur ein kleiner Teil", sagt Leinfelder.

Als "Datenbank" möchte er den gesamten Fundus verstanden wissen, dessen Objekte zum Teil vor mehr als 200 Jahren von Naturforschern eingesammelt wurden. "Alles, was in eine Sammlung gelangt, speichert essenzielle Informationen." Jeder Fund ist ein Datenpunkt in der Geschichte des Planeten. Und sie sollen nach Leinfelders Plänen allesamt in Modelle einfließen, die nicht nur Auskunft geben über die Vergangenheit der Erde, sondern auch über ihre Zukunft.

Die konservierten Körper, Gewebe, Knochen, Schalen und Versteinerungen geben Aufschluss über Temperatur, Feuchtigkeit und chemische Zusammensetzung in dem jeweiligen Lebensraum zur jeweiligen Lebenszeit; oder auch über Schwermetallbelastungen oder eine Verseuchung mit dem Insektizid DDT.

"Von jedem Fund wissen wir exakt, wann und wo er aufgesammelt worden ist und bei Fossilien können wir das Alter mit chemischen Methoden bestimmen", sagt Leinfelder. Wenn man dann auch noch die Sammlungsobjekte miteinander in Beziehung setze, "sehen wir außerdem, wer wann wo mit wem zusammengelebt hat, wie sich alles in der Zeit verändert hat und welche Faktoren daran beteiligt waren."

So ließen sich für fast jeden Ort und fast jeden Zeitpunkt in der Vergangenheit ein Haufen Daten ansammeln, mit dem man eine entsprechende Modellrechnung füttern könnte. Das gelte für das Dinosaurierzeitalter in Ostafrika genauso wie für die Zustände in indonesischen Seen vor zwei Millionen Jahren oder für das Mittelmeer im 18. Jahrhundert, sagt Matthias Glaubrecht, der die Forschung am Naturkundemuseum koordiniert.

Die in den Objekten verfügbaren Informationen stellen eine "gigantische Datenressource" dar, sagt Reinhold Leinfelder. Dies sei der größte Schatz, der in Forschungssammlungen wie der in Berlin verborgen läge. Den gelte es nun endlich zu heben. "Wir wollen das Gedächtnis der Welt auslesen."

Was sind die Gründe dafür, dass sich Arten irgendwann nicht mehr an die sich wandelnde Umwelt anpassen können und zugrunde gehen? Und wie lange dauert es, bis sich eine neue Art bildet? Solche Fragen versuchte schon Charles Darwin zu beantworten. Unter dem Einfluss des Menschen verwandelt sich die Natur massiv, und das nicht erst, seit vom Klimawandel die Rede ist.

Seitdem die Menschheit Ackerbau gelernt hat, gestaltet sie die Umwelt um. Wissenschaftliche Sammlungen sind die einzige Möglichkeit, einen Blick auf die Natur zu werfen, bevor der menschliche Einfluss existiert hat. Was für Folgen die Umgestaltung des Planeten langfristig habe, "kann zurzeit niemand vorhersagen", sagt Leinfelder, dabei sei dies heute auch unter "wirtschaftlichen Aspekten essenziell".

Der Plan vom Welt-Simulator

Vorbild für das Großvorhaben "Welt-Simulation" sind die Modelle der Klimaforscher, mit denen sie versuchen, die Folgen des Treibhauseffekts vorherzusagen. Auch sie basieren auf vielen Einzelmessungen, die Jahrhunderte lang überall auf dem Globus mit den unterschiedlichsten Methoden gesammelt wurden. Für ein Modell der Erdgeschichte bräuchte man noch weitaus mehr Messpunkte.

"Kein grundsätzliches Problem", sagt Leinfelder, "die Datensätze existieren bereits". Zweihundert Jahre Sammeltätigkeit haben allein 135.000 konservierte Fische in die Berliner Magazine gebracht. "Wir haben Exemplare von etwa 95 Prozent aller weltweit bekannten Vogelarten", sagt Matthias Glaubrecht. 7000 Vögel stehen in naturgetreuen Posen in den Glasvitrinen, weitere 140.000 lagern als Bälge oder Skelette im Magazin.

Die Vogelsammlung gilt als eine der bedeutendsten der Welt. In 11.000 Glaskästen ruhen außerdem etwa vier Millionen Schmetterlinge und Falter. Ungezählte Muscheln, Schneckenhäuser und Gesteinsbrocken liegen in flachen Schubladen. Auf 30 Millionen Funde schätzt der Forschungskoordinator den Gesamtbestand der Berliner Sammlung.

Das Gedächtnis der Erde

Dazu zählen auch der weltberühmte Archaeopteryx und das Skelett des Brachiosaurus, das sich in der Empfangshalle des Museums vier Stockwerke in die Höhe streckt.

Oliver Hampe, den Leinfelder als "den Knochenmeister" vorstellt, führt hinunter in das niedrige Kellerlabyrinth. Hinter einer schwer gesicherten Tür lagern Hunderte von Saurierknochen, Schädelfragmente, versteinerte Wirbelkörper und ganz hinten ein paar grob gezimmerte Kisten.

"Die stammen von der ersten deutschen Tendaguru-Expedition anno 1909", erklärt Hampe. Und: Sie sind noch niemals geöffnet worden.

Anfang des 20. Jahrhunderts reiste der deutsche Paläontologe Werner Janensch nach Tansania und brachte von dort innerhalb von vier Jahren 250 Tonnen Dinosaurier-Knochen nach Berlin. Der Brachiosaurus aus der Empfangshalle war dabei. Und diese Kisten, in denen Hampe Gesteinsproben und die Knochen eines weiteren kleinen Dinosauriers vermutet - konserviert in Leintüchern und getrocknetem Lehm. "Bei Gelegenheit" werde man sie auspacken.

Für Leinfelder haben zurzeit andere Dinge Vorrang. Die 30 Millionen Funde in Berlin reichen bei weitem nicht aus, um ein Modell der Erdgeschichte zu entwerfen. Deshalb haben sich die großen deutschen Naturwissenschaftlichen Forschungssammlungen bereits zum DNFS-Konsortium zusammengeschlossen.

Auf 80 bis 100 Millionen Fundstücke schätzen die Mitglieder den Gesamtbestand. Immer noch nicht genug, meint Leinfelder. Die Natursammlungen der ganzen Welt sollten sich mit ihren mindestens anderthalb Milliarden Fundstücken zusammentun und die in ihnen gespeicherten Informationen vernetzen.

Doch dazu müsste man erst einmal wissen, was sich in den Sammlungen befindet. Oft hat niemand den genauen Überblick, was sich in den Archiven versteckt. So passiert es immer wieder, dass in irgendeinem Fundus eine bislang unbekannte Art entdeckt wird, die draußen in der Natur bereits ausgestorben ist. Also sollen die Sammlungen digital erfasst werden.

Dazu hat bereits vor einigen Jahren das weltweite Datenerfassungskonsortium GBIF damit begonnen, Informationen von Sammlungsobjekten zu digitalisieren und in weltweit verfügbare, elektronische Datenbanken zu speisen. Wo möglich sollen auch Erbgutproben genommen und ins Datenarchiv gepackt werden.

Der um eingängige Beispiele nicht verlegene Leinfelder bezeichnet das Projekt auch als "CSI für die Erde", nach der amerikanischen Krimiserie, bei der Forensiker mit Hightech-Methoden Verbrechen aufklären. Doch für sein Vorhaben reichen 45 Minuten TV-Programm nicht aus. Es sei "eine Herkulesaufgabe", ein Generationen-Projekt und zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht entsprechend finanziell unterstützt werde.

Die Investition hält er für gut angelegt, es gehe ja um nicht weniger als die Welt. "Wenn man die Natur als eine Stiftung versteht, die Kapital abwirft, dann dürfen wir den Überschuss ruhig nutzen." Aber man dürfe nicht ans Stiftungskapital ran. Reinhold Leinfelder arbeitet daran, die Grenze zwischen dem zu erkennen, was Überschuss ist und was der Mensch nicht antasten darf.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: