Nanotechnologie:Industrie will laxe Vorschriften für Nano-Produkte durchsetzen

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Obwohl Verbraucherschützer immer wieder auf die ungeklärten Risiken von Nanopartikel hinweisen, sind entsprechende Produkte bislang kaum reguliert. Damit das so bleibt, versuchen Industrie-Verbände politische Beschlüsse zu blockieren.

Christian Meier, Aitziber Romero und Dino Trescher

Der Gegenstand der umstrittenen Regulierung ist klein, aber profitträchtig. Produkte mit dem Zusatz "Nano" enthalten herkömmliche Chemikalien, die durch ihre winzige Größe vollkommen neue Wirkung entfalten können - im Guten wie im Schlechten.

Nanotechnologie-Labor der University of Michigan in Ann Arbor, USA. "Der Verbraucher darf nicht die ungeklärten Risiken der Nanopartikel tragen", sagt Sylvia Maurer vom europäischen Verbraucherschutzverband Beuc. (Foto: AP)

Sie wehren gerucherzeugende Bakterien in T-Shirts ab, machen Tennisschläger stärker und lassen Schmutz von Lackschichten abperlen. Aber sie sind womöglich auch auf eine bisher unbekannte Art toxisch, warnen Experten. Deswegen geraten nun die Hersteller der Produkte einerseits sowie Verbraucherschützer und Politiker andererseits in Konflikt.

Schon im April 2009 forderte das Europäische Parlament eigene Sicherheitsvorschriften für Nanomaterialien im EU-Chemikalienrecht. "Der Verbraucher darf nicht die ungeklärten Risiken der Nanopartikel tragen", sagt Sylvia Maurer vom europäischen Verbraucherschutzverband Beuc. Jüngst verlangte auch Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) ein Nanoproduktregister.

Die Industrie zeigt sich vordergründig offen für diese Risikodebatte und mahnt lediglich einen sachlichen Diskurs an. Doch hinter den Kulissen ignoriert sie wissenschaftliche Ergebnisse, um ihre Interessen zu wahren. Ein bevorzugtes Mittel dabei scheint zu sein, Beschlüsse zu blockieren.

Zwar lehnt der Verband der deutschen chemischen Industrie ein Nanoproduktregister und neue Gesetze ab, verschließt sich jedoch einer Regulierung nicht ganz: Er diskutiere mit deutschen und europäischen Behörden über eventuell erforderliche Präzisierungen bestehender Vorschriften. Auch der Verband der europäischen chemischen Industrie inszeniert sich als Unterstützer einer "angemessenen" Regulierung: hierfür wolle er eine fundierte wissenschaftliche Grundlage erarbeiten.

Trotz solcher Versprechen steckt die Regulierung der Nanotechnologie in den Startlöchern fest. Es fehlt schon die Grundlage, eine rechtlich verbindliche Definition des Begriffs "Nanomaterial".

Zwar gibt es einen Konsens darüber, dass "Nano" Partikel meint, die in mindestens einer der drei Raumrichtungen weniger als 100 Nanometer (Millionstel Millimeter) messen. Doch über die Frage, welcher Anteil von Nanopartikeln ein Nanoprodukt ausmacht, ist Streit entbrannt.

Im Kern geht es darum, ob die Nanopartikel gezählt oder gewogen werden sollen. Bei der Herstellung der Produkte entstehen schließlich Teilchen unterschiedlicher Größe.

Die EU-Kommission möchte, dass in Nanoprodukten ein bestimmter Anteil an der Zahl aller Partikel unter 100 Nanometer liegen muss. Sie folgt damit der Empfehlung ihres wissenschaftlichen Ausschusses "Neu auftretende und neu identifizierte Gesundheitsrisiken" (SCENIHR). Industrieverbände fordern ein anderes Kriterium: Der Anteil an der Masse der Partikel müsse eine bestimmte Grenze überschreiten.

Zwischen Wiegen und Zählen liegen aber Welten, wie ein einfaches Beispiel zeigt. Zerteilt man einen Würfel von einem Zentimeter Kantenlänge mit der Oberfläche eines Zuckertütchens in Würfelchen von 1,25 Millimeter Kantenlänge, erhält man 512 Partikel, die zusammen die Oberfläche einer Spielkarte haben. Teilt man weiter, bis Würfelchen mit einem Nanometer Kantenlänge entstehen, ergeben sich eine Trilliarde Teilchen, deren gemeinsame Oberfläche einem Fußballfeld entspricht. Die Masse des Materials ändert sich dabei nicht.

Nanopartikel wehren gerucherzeugende Bakterien in T-Shirts ab, machen Tennisschläger stärker, lassen Schmutz von Lackschichten abperlen und erhöhen in Sonnencremes den Schutz vor UV-Strahlen. (Foto: AP)

Dass eine kleine Masse von Nanopartikeln eine derart riesige Oberfläche hat, ist einer der Gründe für die Besorgnis der Risikoforscher. Die große Oberfläche lässt chemische Reaktionen schneller ablaufen, was sowohl erwünschte wie unerwünschte Effekte haben kann.

Was bei Katalysatoren nützlich ist, kann im menschlichen Körper oder der Umwelt gefährlich sein. Mehrere Studien mit verschieden großen Partikeln hätten einen Zusammenhang zwischen der Teilchengröße und damit ihrer Oberfläche pro Masseneinheit und der entzündlichen Wirkung in der Lunge gezeigt, schrieben die Toxikologen Harald Krug und Peter Wick von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in St. Gallen jüngst in einem Fachartikel.

Auch die Wissenschaft behandelt Nanomaterialien längst als eigene Stoffklasse. Seit etwa 2005 gibt es die Disziplin "Nanotoxikologie". Schon damals schrieb Günter Oberdörster von der University of Rochester: "Die Toxizität der Nanoform einer Substanz kann sich dramatisch von der größeren Form unterscheiden."

Dass Nanomaterialien anders sind, liegt nicht nur an der vergrößerten Oberfläche. Beim Verkleinern ändern Partikel oft ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften. So erscheinen Nanopartikel aus Gold nicht gelb, sondern rot. Außerdem können Nanopartikel im Körper leichter transportiert werden und biologische Barrieren, etwa die Luft-Blut-Schranke, überwinden, wie deutsche Forscher vor kurzem für Titandioxid-Nanopartikel zeigten.

Solche Ergebnisse mag die Industrie offenbar nicht hören. Mit ihrem Widerstand will sie eine möglichst enge Definition des Begriffs Nanomaterial erreichen, damit möglichst wenig Produkte als Nanoprodukte gelten.

Um sich durchzusetzen, verwenden Industrievertreter Argumente, die wissenschaftlich klingen, es nach Expertenansicht aber nicht sind. Es sei unmöglich, die Anzahl von Nanopartikeln mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen, kommentierte der Lobbyverband Nanotechnology Industries Association den Definitionsvorschlag der EU-Kommission. Die Bestimmung des Massenanteils hingegen sei Routine.

"Diese Aussage der Industrie ist obsolet", sagt Wolfgang Kreyling vom Helmholtz-Zentrum München, Mitglied der SCENIHR-Expertengruppe. "Man kann auch die anzahlbezogene Größenverteilung präzise genug bestimmen." Das bedeute zwar einen Zusatzaufwand. Praktikabel sind die Verfahren dennoch, und sie würden bereits genutzt, wie Fachpublikationen aus der Industrie zeigten, sagt Kreyling.

Auch ein weiteres Argument der Industrie lässt der Biophysiker nicht gelten. Ein Großteil der bisherigen Risikoforschung würde wertlos, so der Nanotechnologie-Industrieverband, wenn die massenbezogene Größenverteilung nicht mehr verwendet würde, denn die bisher erhobenen Ergebnisse bezögen sich auf dieses Maß.

"Wir schlagen vor, die anzahlbezogene Verteilung als wichtigsten Parameter einzuführen, die Massengrößenverteilung aber weiterhin als zusätzlicher Parameter zu bestimmen, auch wegen der bisherigen Daten", sagt Kreyling. Die Ergebnisse alter und neuer Versuche blieben also vergleichbar.

Aber nicht nur bei der Definition, auch an anderer Stelle bremsen Industrieverbände. Politiker und Nichtregierungsorganisationen fordern, Sonderregeln für Nanomaterialien in der EU-Chemikalienverordnung Reach einzuführen.

Das Gesetz verlangt von Chemikalien-Herstellern und -Importeuren sicherzustellen, dass ihre Stoffe Mensch und Umwelt nicht schaden. Die Firmen müssen daher selbst alle Informationen zusammentragen, die nötig sind, um das Risiko eines Stoffes zu bewerten.

Reach gelte bereits für Nanomaterialien, damit sei für deren Sicherheit gesorgt, erklären Vertreter der chemischen Industrie. Hingegen heißt es in einer Studie des Umweltbundesamtes, die für Reach vorgeschriebenen Standardtests, mit denen die Giftigkeit von Chemikalien untersucht wird, seien nicht auf Nanomaterialien anwendbar und müssten angepasst werden.

Damit ein konkretes Nanomaterial ein eigenes Reach-Dossier mit eigenen Tests erhielte, müsste es als eigenständige Chemikalie eingestuft werden, was bislang aber nicht geschieht. Produkt X müsste also unabhängig von X in Nanoform beurteilt werden.

Daher beauftragte die EU-Kommission vor zwei Jahren eine Expertengruppe, wissenschaftlich fundierte Kriterien zu bestimmen, die ein Nanomaterial zu einer eigenständigen Chemikalie machen. Und genau an dieser Stelle warfen Industrievertreter den Stock ins Getriebe, berichtet eine beteiligte Expertin, die ungenannt bleiben möchte.

In dem Beratungsgremium saßen neben Industrieverbänden Vertreter von EU-Mitgliedsstaaten und von Umweltgruppen. Die Expertin sagt:"Die Industrie-Teilnehmer blockierten eine fachliche Diskussion mit dem Verweis auf die bestehende Verordnung."

Diese besagt, dass Nanomaterialien keine neuen Stoffe sind, sondern nur physikalische Formen bereits existierender Chemikalien. Die Lobbyisten hätten also die Reform der bestehenden Vorschriften mit Hinweis auf eben diese Vorschriften verweigert.

Jenny Holmqvist vom Verband der europäischen chemischen Industrie, der an den Diskussionen beteiligt war, kommentiert die Vorwürfe: "Es war nie unsere Absicht, behindernd zu wirken. Aber es waren sehr schwierige Diskussionen und die Standpunkte waren sehr unterschiedlich. Deshalb mag es so herübergekommen sein, dass wir blockieren. Doch dies gilt genauso für die andere Seite."

Diese "andere Seite" bestand allerdings aus allen anderen Teilnehmern des Gremiums. "Am Ende stand die Industrie mit ihrer Meinung allein", so die Expertin.

Die Lobbyisten mögen das dennoch als Erfolg gewertet haben. Schließlich verzeichnet der unter Zeitdruck verfasste Bericht an die Europäische Kommission nun nur die unterschiedlichen Positionen, zieht aber kein Resümee.

© SZ vom 16.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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