Nachruf auf Iring Fetscher:Faible für Marx und Märchen

Iring Fetscher

Iring Fetscher gestorben (1922-2014): Verfasser von wichtigen Standardwerken zum europäischen Marxismus und anderen politischen Philosophen

(Foto: dpa)

Iring Fetscher ist tot. Der bekannte deutsche Politikwissenschaftler beriet neben seiner wissenschaftlichen Arbeit auch die Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt.

Von Willi Winkler

In der alten Bundesrepublik war Karl Marx schlimmer als Pornografie. Wer sich trotzdem bilden wollte wie der junge Enzensberger, fand Nachhilfe allenfalls bei Jesuiten. Iring Fetscher war einer der ersten, der es wagte, gegen den antikommunistischen Konsens die Marxsche Lehre überhaupt vorzustellen. Seine Dokumentensammlung "Karl Marx und der Marxismus" (ab 1963) gehörte bald zum Grundwortschatz der Neuen Linken, die sich dabei aber nicht von einem Hang zum romantisierten Kommunismus abhalten ließ.

Fetscher, geboren 1922 in Marbach, hatte in Tübingen und in Paris an der Sorbonne studiert, wo er mit den originellen Ideen des Stalin-Apologeten (und möglicherweise KGB-Agenten) Alexandre Kojève bekannt wurde und deshalb über Hegel aus linkshegelianischer Perspektive promovierte. Dem Staatsverständnis des Antagonisten Rousseau galt seine Habilschrift, was Fetscher für die zünftige Wissenschaft hätte hoch verdächtig machen müssen.

Dennoch wurde er 1963 statt des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ferngehaltenen Golo Mann als Politologe nach Frankfurt berufen. Lehrstuhl und Professorat bieten nicht wenigen die staatliche Lizenz zum vorzeitigen Ruhestand, aber der Politologe Fetscher wollte über die Wissenschaft hinaus wirken. Bei den Debatten der Siebzigerjahre über Mitbestimmung, Terrorismus, die Grenzen des Wachstums und Ökologie war er im alten Fernsehen ein gern beanspruchter Gast. Ohne Mitglied der SPD zu sein, beriet er den ewigen Kanzlerkandidaten Willy Brandt, wurde später Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

Mit der reinen Lehre, auch wenn sie bei Thomas Hobbes' Etatismus begann und bei der Ursachenforschung für den RAF-Terrorismus keineswegs aufhörte, war der Professor dennoch nie ganz ausgelastet. Selbstverständlich werden noch Generationen von Studenten von seinem zusammen mit Herfried Münkler herausgegebenen fünfbändigen "Handbuch der politischen Ideen" zehren, aber der Volksaufklärer Fetscher konnte auch unernst sein und - fast im Einklang mit der Neuen Frankfurter Schule - ein Märchenverwirrbuch wie "Wer hat Dornröschen wachgeküsst?" (1972) schreiben.

In bester Parodie-Tradition dichtete er den Grimm'schen Gestalten die schlimmsten Neurosen an, schreckte nicht vor Missbrauchsandeutungen, Penisneid und dem ganzen Instrumentarium aus dem bunten Freud-Kasten zurück und verspottete nebenher noch die die Kollegen Blochianer und Adorniten.

Spät beschäftigte sich Fetscher mit seiner eigenen Geschichte. Als Soldat war er Zeuge von Goebbels' Durchhalterede im Sportpalast geworden. Wie viele seiner Generation war er als 18-Jähriger halbbewusst Mitglied der NSDAP geworden, er hatte sich freiwillig zur Artillerie gemeldet, um Offizier zu werden und dachte jetzt, nach seiner Emeritierung und im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung, über seine eigene Verführbarkeit nach. Sein "Versuch, mein Leben zu verstehen", erschien 1995 unter dem Titel "Neugier und Furcht". Am Samstag ist Iring Fetscher im Alter von 92 Jahren in Frankfurt gestorben.

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