Nachgefragt:Wie wird man mit Legasthenie Professor?

Der Humangenetiker Tiemo Grimm untersucht an der Universität Würzburg die genetischen Ursachen der Legasthenie. Der Professor ist von seinem Forschungsgebiet unmittelbar selbst betroffen: Er leidet an einer Lese-Rechtschreibstörung, ebenso wie drei seiner Kinder.

Interview: Christian Stöcker

SZ:Hat Ihre Lese-Rechtschreibstörung Sie in Ihrer akademischen Laufbahn beeinträchtigt?

Grimm:Ich habe im Studium mehr Zeit zum Lernen gebraucht als andere, denke ich, aber ich konnte genauso gut lernen. Außerdem hatten wir in der Medizin damals nur mündliche Prüfungen. Ich habe erst schreiben müssen, als ich angefangen habe, wissenschaftlich zu arbeiten. Und da habe ich immer Verständnis gefunden, es gab immer irgendeinen Kollegen, der meine Texte noch einmal durchgelesen hat. Je offener ich damit umgehe, desto mehr Akzeptanz finde ich auch. Ich kenne viele, die trotz ihrer Legasthenie etwas geworden sind.

SZ: Haben Sie immer gewusst, dass Sie an Legasthenie leiden?

Grimm: Mir wurde das erst bewusst, als ich es bei meinen Kindern wiederfand. Ich habe sechs Kinder, von denen drei betroffen sind. Dass ich im Lesen und Schreiben schwach war, aber viel von Naturwissenschaften verstand, haben meine Lehrer einfach für eine einseitige Begabung gehalten. Ich hatte als kleines Kind durch einen Unfall Zähne verloren und konnte keine S-Laute sprechen; darauf hat man das dann zurückgeführt. Als ich nach dem ersten Schuljahr überhaupt nicht lesen konnte, haben meine Mutter und ich mit der Buchstabiermethode lesen gepaukt. Das war wichtig, denn Lesen muss man können, um Informationen zu bekommen. Das Schreiben ist das kleinere Problem. Es gibt ja Kollegen, die Texte korrigieren können, und Computer mit Rechtschreibprogrammen.

SZ: Unter Ihren Kindern gibt es Legastheniker. Wie sah es in den früheren Generationen Ihrer Familie aus?

Wie wird man mit Legasthenie Professor?

Grimm: Mein Vater war im Internat und hat oft Briefe nach Hause geschickt. Penibel hat mein Großvater darin die Rechtschreibfehler angestrichen und meinem Vater die Briefe zurückgeschickt. Nicht gerade schön. Dabei hatte mein Großvater selbst in der Schule große Probleme mit der Orthographie. Das weiß ich aus einem Buch, das meine Urgroßmutter geschrieben hat.

SZ: Wird Legasthenie denn vererbt?

Grimm: Es gibt gute Hinweise, dass eine genetische Veranlagung dominant vererbt wird - nicht nur in unserer Familie, sondern allgemein. Es ist aber ein Erbgang mit nicht vollständiger Penetranz, das heißt, es zeigt nicht jeder Genträger klinische Symptome. Wäre die Penetranz vollständig, wären fünfzig Prozent aller Nachkommen betroffen. Es sind aber weniger.

SZ: Sind Sie Humangenetiker geworden, weil Sie diese Störung in Ihrer Familie entdeckt haben?

Grimm: Als die Lese-Rechtschreibstörung bei meinem Sohn erkannt wurde, war ich schon Genetiker. Ich interessiere mich aber seither verstärkt für die Vererbung der Legasthenie. Der große Vorteil als Professor ist ja, dass ich meine Forschungsgebiete selbst wählen kann. In Kooperation mit anderen Universitäten sammelt meine Arbeitsgruppe Daten über Familien mit Legasthenie. Wenn man viele Familien mit einem betroffenen und einem nicht betroffenen Kind hat, kann man durch Vergleiche herausfinden, welche Gene eine Rolle spielen.

SZ: Kennt man solche Gene schon?

Grimm: Ein Gen ist bereits identifiziert, es liegt auf Chromosom15. Dieses Gen ist in meiner Familie aber nicht verantwortlich, wie ich aus Vergleichen von Blutproben weiß. Ich habe Blut von meinen Eltern, meiner Tante, meinen Geschwistern und meinen Kindern genommen und natürlich von meiner Frau und mir.

SZ: Es gibt also mehr als ein Legasthenie-Gen?

Grimm: Der Zusammenhang zwischen Genetik und Legasthenie ist komplex. Es wird ja nicht die Rechtschreibung vererbt, sondern ein Protein, das im Gehirn Funktionen hat, die dazu führen, dass ich Probleme mit Rechtschreibung habe. Wie bei anderen Erbkrankheiten auch können viele verschiedene Gene eine Rolle spielen. Legastheniker gleichen einander ja auch nicht vollkommen. Der eine hat größere Probleme mit der Rechtschreibung, der andere mit dem Lesen. Das kann man sich vorstellen wie bei einer Treppe: Wenn ich da eine Stufe herausschneide, egal welche, bricht die Treppe zusammen.

Tiemo Grimm ist Legastheniker und Professor für Humangenetik an der Universität Würzburg.

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