Musiker:"Wolfgang Amadeus war kein Wunderkind"

Der Neuropsychologe Lutz Jäncke aus Zürich hat den Fall Mozart untersucht. Sein Urteil: Der Komponist hatte nur fleißiger geübt als gewöhnliche Kinder.

Philip Wolff

SZ Wissen: Mit fünf Jahren komponierte Wolfgang Amadeus Mozart sein erstes Menuett, mit elf sein erstes Bühnenstück. Der Vater sprach von einem Wunder. Was sagt die Wissenschaft heute?

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Mozart: Als Wunderkind vermarktet

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Jäncke: Sie sagt zunächst einmal: Vorsicht. Manche frühen Kompositionen sind nicht zum behaupteten Zeitpunkt entstanden, sondern einige Jahre später. Außerdem hat Vater Leopold die Noten niedergeschrieben, während der kleine Wolfgang Amadeus vor sich hin spielte.

Was in diesen Noten stammt also wirklich vom Kind? Sicher wissen wir heute nur, dass Mozart sehr früh begonnen hat zu musizieren, und wir wissen: Wenn Kinder etwas intensiv üben, zeigen sie erstaunliche Leistungen. Spielt ein Kind früh Schach, wird es mit Sicherheit Schachexperte. Kinder können ein Expertentum entwickeln, das Erwachsenen wie ein Wunder erscheint.

SZ Wissen: Ist diese Fernanalyse in Bezug auf Mozart nicht ziemlich gewagt?

Jäncke: Nein, gewagt ist vor allem die gängige Sicht auf Mozart, die dem Kind göttliche Begabung zuschreibt. Wenn der Dirigent Nikolaus Harnoncourt sagt, Mozart sei ein Genie von einem anderen Stern, dann entfernen wir uns von der Wahrheit. Ich versuche, mich dem Phänomen Mozart naturwissenschaftlich zu nähern.

Das heißt, wir müssen das Wissen über die Entstehung so genannter Genies, die man besser Experten nennen sollte, mit den Fakten zusammenbringen, die wir von Mozart kennen. Das dabei entstehende Bild ist stimmig. Das Genie dagegen ist ein Begriff aus der Romantik, das durch die psychologische Forschung längst widerlegt ist.

SZ Wissen: Demnach machte bloß Übung den Mozart?

Jäncke: Richtig. Zwar muss er auch Talent besessen haben, doch wichtiger ist die Frage nach der Motivation dieses Talents: Wie kam die Spitzenleistung zustande, warum hat dieser kleine Junge mit drei Jahren so intensiv und erfolgreich Geige und wenig später Klavier geübt, welche Möglichkeiten steuerte seine Umgebung zu dieser Entwicklung bei? Das interessiert uns Neurowissenschaftler.

SZ Wissen: Und wie lautet die Antwort?

Jäncke: Wir wissen, dass der kleine Wolfgang Amadeus in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem das gesamte Leben von Musik bestimmt war. Der Vater war Kapellmeister, Musiklehrer und Autor eines Standardwerks für Musikpädagogik. Tägliches Musizieren war im Hause Mozart also lebensnotwendig und das muss die frühkindliche Entwicklung beeinflusst haben.

Jedenfalls brachte diese Entwicklung den Vater auf eine Geschäftsidee: Er wollte mit seinen Kindern offenbar Geld verdienen und präsentierte sie als Wunderkinder. Als Wolfgang sechs Jahre alt war, ging der Vater mit ihm und der vier Jahre älteren Schwester Nannerl auf Tournee. Sie spielten am Kaiserhof in Wien, vor Ludwig XV. in Paris und vor Georg III. in London.

SZ Wissen: Also schlummert in vielen Neugeborenen ein solcher Musikexperte.

Jäncke: In gewisser Weise ja, denn das menschliche Gehirn fängt außerordentlich früh an, Spezialisierung zu betreiben: Ab dem neunten Monat unterscheidet jedes gesunde Kind muttersprachliche Laute von fremdsprachlichen und speichert Klangspezialitäten und Betonungsmuster ab.

Das Gehirn stellt sich extrem früh auf die Umwelt ein, es hat sich in der Evolution zu einem Kulturorgan entwickelt, das ungeheuer vielfältige Anpassungsmöglichkeiten bewerkstelligt: Es gibt weltweit mindestens 6000 verschiedene Sprachen, 20.000 Dialekte und nichts davon ist angeboren. Es sind Kulturtechniken. Insofern haben wir die Möglichkeit, aus uns allen sehr früh Experten in verschiedenen Kulturtechniken zu machen.

"Wolfgang Amadeus war kein Wunderkind"

SZ Wissen: Bevor ehrgeizige Eltern jetzt anfangen, ihre Kleinkinder ständiger Musik auszusetzen: Um welchen Preis geschieht so etwas? Mozart schrieb einmal: "Ich kann nicht poetisch schreiben ... Ich kann sogar durch Deuten und durch Pantomime meine Gesinnung und Gedanken nicht ausdrücken ... Ich kann es aber durch Töne."

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Musik wie eine Sprache lernen: Neugeborene in Kosice (Slowakei).

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Jäncke: So war das. Wie viele Kinder, die extreme Fähigkeiten entwickeln, hatte Mozart defizitäre Bereiche. Er war in sozialer Hinsicht ungeschickt und unsicher. Der Umgang mit seinen Freundinnen und Frauen zum Beispiel war nicht richtig erwachsen.

Er hat es nie geschafft, sich von seinem Vater zu lösen, ein eigenes Leben aufzubauen, und in der wirtschaftlichen Lebensplanung war er geradezu ein Analphabet. Ob bei Mozart sogar neurologische Schäden vorlagen - manche wollen ein Tourette-Syndrom aus den Kraftwort- Kaskaden seiner Briefe heraushören -, diese Frage ist mir allerdings zu spekulativ.

SZ Wissen: Der Vater jedenfalls steht nicht in bestem Licht da. Oder ist aus Expertensicht auch denkbar, dass der begabte Sohn ihn gerührt und erstaunt hat?

Jäncke: Ich glaube nicht, dass Leopold der gerührt Staunende war. Ein Training, wie er es dem kleinen Wolfgang Amadeus auferlegte, würden wir heute keinem Kind zumuten.

SZ Wissen: Doch ohne Talent hätte das nicht viel geholfen. Was ist Talent, wenn nicht ein anderes Wort für Genialität?

Jäncke: Nach den neuesten Untersuchungen müssen wir annehmen, dass unsere kognitiven und motorischen Fertigkeiten höchstens zu 50 Prozent genetisch determiniert sind. Das nennen wir Talent. Die anderen 50 und mehr Prozent sind also durch Umwelteinflüsse, Erziehung und Training bestimmt. Betrachten wir aber lieber die Leistung, die am Ende herauskommt. Sie ist eine Funktion von drei Faktoren: Fähigkeit mal Wollen mal Möglichkeit.

Das heißt, wenn man eine hohe Fähigkeit hat und beste Möglichkeiten, aber keine Lust, lautet die Rechnung: eins mal eins mal null. Heraus kommt null Leistung. Fähigkeit wiederum setzt sich aus Talent und Training zusammen, das heißt, wer nicht trainieren will, kann noch so viel Talent besitzen, er wird es zu nichts bringen.

SZ Wissen: Training ist also der entscheidende Faktor?

Jäncke: Der Psychologe Anders Ericsson hat dies in einer Studie gezeigt: Absolventen der Berliner Musikhochschule, die aufgrund ihrer Abschlussnoten für eine internationale Musikerkarriere qualifiziert waren, hatten schon vor dem Studium, als Kinder und Jugendliche, 7500 Übungsstunden absolviert. Wer vorher nur etwa 3500 Stunden geübt hatte, den erwartete nach dem Studium ein Werdegang als Musiklehrer.

SZ Wissen: Und was motivierte Mozart zum Training? Biografen schreiben, er sei ein außergewöhnlich liebesbedürftiges Kind gewesen. Ist das eher die Folge eines harten Lernalltags oder vielleicht ein Hinweis darauf, dass sich das Kind durchs Üben Liebe verdienen wollte?

Jäncke: Ich glaube beides - ein ganz wichtiger, wenn auch etwas spekulativer Punkt. Er könnte erklären, warum Mozart sich so lange dem Vater unterworfen hat und erst sehr spät rebellierte. Man kennt die Briefe an den Vater, der für Mozart "gleich nach Gott" kam. Dieser starke Bezug legt nahe, dass der Vater vielleicht gar keinen Zwang auf das Kind ausüben musste.

Der kleine Mozart wollte das Musizieren üben wie eine Sprache, von der er permanent umgeben war. Mozart hat sich, denke ich, selbst sehr über die Musik definiert. Er hatte, wie jeder Mensch, ein Musikkonzept entwickelt. Nur muss es für ihn ein außergewöhnlich wichtiges, vielleicht das wichtigste seiner Persönlichkeit gewesen sein.

SZ Wissen: Was ist das: ein Musikkonzept?

Jäncke: Es handelt sich um Klangvorlieben, die jeder in seiner Biografie entwickelt, und die Verbindungen von Klangeindrücken mit Empfindungen und Bedeutungen. Diese Verbindungen strukturieren jede Persönlichkeit.

"Wolfgang Amadeus war kein Wunderkind"

SZ Wissen: Soll das heißen, Mozart verstand Musik wie andere Menschen Sprache verstehen und konnte deshalb mit 14 Jahren Gregorio Allegris Miserere nach einmaligem Hören niederschreiben?

Jäncke: In Ansätzen können so etwas die meisten Menschen. Wir alle kennen Musik meist so gut, dass uns Tonfolgen geläufig sind und wir sie nach- und weitersingen können. Nur war Mozart durch die frühe, exzessive Stimulation im Elternhaus in dieser Hinsicht viel gebildeter als andere Menschen.

SZ Wissen: Ein Gegenbeispiel: Carl Friedrich Gauss, das Wunderkind der Mathematik, soll als Dreijähriger die Lohnabrechnung seines Vaters korrigiert haben. Kann ein Kaufmannsassistent sein Kind so für Mathematik einnehmen?

Jäncke: Ach, es gibt noch schwieriger zu erklärende Fälle. Zum Beispiel den Fall des 1930 gestorbenen Legationsrats Emil Krebs, der 60 Sprachen beherrscht haben soll und dessen Gehirn im Elitehirn-Archiv des Oskar-Vogt-Instituts für Hirnforschung der Universität Düsseldorf aufbewahrt wird.

Meine Kollegen Katrin Amunts und Karl Zilles haben zytoarchitektonische Auffälligkeiten in den Spracharealen dieses Gehirns festgestellt. Auch andere, im weitesten Sinne medizinische Abnormitäten können natürlich herausragende Leistungen ermöglichen.

SZ Wissen: Und solche Auffälligkeiten kann man im Fall Mozart ausschließen?

Jäncke: Ich bin mir nicht sicher. Mozarts Hirn haben wir nicht. Ich muss mich an biografischen Belegen orientieren - auch wenn sie zum Teil anekdotisch sind und durchs Hörensagen verbreitet wurden. Deshalb beschränke ich mich auf Informationen aus Mozarts Briefen oder aus Beschreibungen seiner frühen Kindheit, die sich im Nachhinein neuropsychologisch erklären lassen.

Die im vergangenen Oktober erschienene Mozart-Gesamtausgabe in acht Bänden "Briefe und Aufzeichnungen" von Ulrich Konrad und anderen ist da sehr hilfreich. Jede andere Betrachtungsweise führt dagegen zu einer romantisch-hysterischen Verklärung.

SZ Wissen: Weil Fakten übersehen werden?

Jäncke: Ja, auch Albert Einstein hat das an seiner Person erlebt: Er wunderte sich darüber, dass die Leute ihn plötzlich für einen Universalgelehrten hielten, obwohl er nicht einmal sehr sprach- oder mathematikbegabt war. So sind die Menschen halt. Wer weiß, vielleicht werden die Leute in 200 Jahren Dieter Bohlen für ein Genie halten, weil er so oft den richtigen Ton getroffen und so viele Platten verkauft hat.

SZ Wissen: Von Dieter Bohlen könnten dann aber auch Fernseh- oder Zeitungsinterviews überliefert sein, die diese Einschätzung relativieren.

Jäncke: Das stimmt. Da sind heutige Künstler im Nachteil. Massenhysterie reguliert sich heute leichter und wir müssen einsehen: Unsere Stars sind keine Genies, sondern erklärbare Menschen wie wir alle.

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