Moral:"Wir brauchen keinen freien Willen"

Interview mit dem Biologen Franz Wuketits von der Uni Wien.

sueddeutsche.de: Kommen wir zurück zum freien Willen.

Wuketits: Unsere Vorfahren hatten also Einsicht in Ursachen und Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens - und auf dieser Grundlage haben sie ein Gefühl von Freiheit entwickelt.

sueddeutsche.de: Wir nehmen uns wahr als Individuen, die eine Entscheidung getroffen haben - und glauben deshalb fälschlicherweise, wir hätten eine Wahl gehabt?

Wuketits: Richtig. Dazu kommt, dass in vielen Kulturen, auch im christlichen Abendland, dieses Gefühl sozial beziehungsweise durch religiöse Motive verstärkt wurde. Auch die Philosophie hat sich damit beschäftigt. So hat zum Beispiel Immanuel Kant den freien Willen als unabdingbare Voraussetzung für Sittlichkeit und moralisches Handeln betrachtet.

Brauchen wir göttliche Gebote? "Die Existenz eines freien Willens ist keine notwendige Voraussetzung für moralisch richtiges Handeln." (Foto: Foto: iStock/ddp)

sueddeutsche.de: Wenn es also keinen freien Willen gibt, dann gibt es auch keine Moral?

Wuketits: Moral ist die Summe aller Regeln, die dazu dienen, eine Gesellschaft zu stabilisieren. Diese Regeln haben sich in unterschiedlichen Gesellschaften unter verschiedenen Umweltbedingungen entwickelt und ihnen Vorteile gebracht - und damit auch den Individuen, die in diesen Gesellschaften leben und davon abhängig sind.

Die Existenz eines freien Willens ist jedoch keine notwendige Voraussetzung für moralisch richtiges Handeln. Wir haben ja beispielsweise auch soziale Zwänge zu berücksichtigen. Nicht Moral, sondern das Bedürfnis, in meiner Gesellschaft nicht zum Außenseiter zu werden, bringt mich dazu, meine Versprechen einlösen.

sueddeutsche.de: Ihr moralisches Verhalten ist letztlich reiner Eigennutz?

Wuketits: Ja. Wir brauchen, um uns moralisch zu verhalten, weder den freien Willen, noch eherne Sittengesetze. Es genügen die Selbstregulationsmechanismen unserer Gesellschaften.

Weiter zum nächsten Teil: "Das Konzept von Schuld und Sühne ist überholt"

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