Meteorologie:Wie Forscher in 3000 Meter Höhe das Wetter erkunden

Meteorologie: Selbst spät im Frühjahr kann es auf dem Gipfel des Sonnblicks noch schneien. Die Techniker des Observatoriums müssen dann Antennen und Messgeräte vom Schnee befreien.

Selbst spät im Frühjahr kann es auf dem Gipfel des Sonnblicks noch schneien. Die Techniker des Observatoriums müssen dann Antennen und Messgeräte vom Schnee befreien.

(Foto: Mauritius)

Im Observatorium auf dem Rauriser Sonnblick betreiben Wissenschaftler Umweltforschung auf höchstem Niveau.

Von Titus Arnu

Das Panorama: ein weißes Rechteck. Man könnte es im Karl-Valentin-Museum neben das Werk "Kaminkehrer bei Nacht" hängen und drunterschreiben: "Möwe im Winter". Eine monochrome Fläche. Schwer zu sagen, ob es sich um Nebel oder dichten Schneefall handelt. Wahrscheinlich beides. "Warum dieser Berg Sonnblick heißt, weiß ich auch nicht so recht", sagt Thomas Krombholz. Er nimmt ein Formular von seinem Schreibtisch und notiert darauf mit einem Kugelschreiber die Ziffern 74174. Das ist der Code für "Nebeltreiben mit Schnee".

Krombholz legt das Formular aufs Fensterbrett, zum Fernglas und zur Sonnenbrille. Alle drei Stunden trägt er neue Zahlenkombinationen nach dem sogenannten Synop-Schlüssel ein. An diesem Tag kommen die 7 und die 4 häufig vor. 7 steht für Schnee, 4 für Nebel, 74 für "unterbrochener starker Schneefall", 41 für Nebelschwaden. Die 0 steht nicht auf dem Zettel. 0, das würde bedeuten: keine Wolken. Doch die Sonne lässt sich bis zum Abend nicht mehr blicken auf dem Sonnblick.

"Ich bin Wetterwart", sagt Krombholz, "ich wart' aufs Wetter." Das stimmt nicht ganz, offiziell lautet seine Berufsbezeichnung "Wetterdiensttechniker". Früher sagte man "Wetterbeobachter". Eine grob vereinfachende Umschreibung für all das, was der 47 Jahre alte Österreicher jeden Tag leistet im Sonnblick-Observatorium. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass er den ganzen Tag aus dem Fenster starrt und Strichlisten für Sonnenstrahlen, Schneeflocken und Wolkenfetzen führt. Das Observatorium auf dem 3106 Meter hohen Gipfel in den Hohen Tauern funktioniert eher wie eine Raumstation.

Das Labor funktioniert wie eine Raumstation, die Techniker sind die Astronauten

Wissenschaftler aus ganz Europa haben hier oben Experimente und Messreihen installiert, sind aber meistens nicht persönlich anwesend, sondern werten in ihren Instituten in Salzburg, Wien oder München nur die Daten aus. Krombholz und seine Kollegen sind die Astronauten, die alle Messgeräte bedienen, Antennen von Schnee und Reif befreien, die Energieversorgung am Laufen halten, Solaranlagen reparieren - und nebenbei das Wetter beobachten.

Das Sonnblick-Observatorium, das einem Trägerverein gehört und von der österreichischen Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) betrieben wird, ist seit 1886 fast durchgehend mit Männern wie Thomas Krombholz besetzt. Nur vier Tage lang war die Station verwaist, und zwar im November 1918, als der Erste Weltkrieg endete und die k.u.k.-Monarchie sich auflöste. Damals zogen die Soldaten ab, die auf dem Gipfel stationiert waren, und es dauerte vier Tage, bis die zivilen Wetterdienstler wieder ihren Posten bezogen hatten.

Ansonsten sind Temperatur, Wind und Niederschlag seit 130 Jahren fast lückenlos dokumentiert. Dazu kommen noch die Aufzeichnungen über die Dicke der Eis- und Schneedecken an dem vergletscherten Dreitausender. "Ein Schatz", sagt Bernhard Niedermoser, bei der ZAMG verantwortlich für das Sonnblick-Observatorium. Es ist die weltweit längste ununterbrochene Klimamessreihe für das Hochgebirge.

Die größte jemals gemessene Schneehöhe Österreichs wurde am 9. Mai 1944 erreicht

In den alten Zahlenreihen, die längst digitalisiert sind, können Forscher nun nachlesen, wie das Wetter vor 15 Jahren war, oder vor 111 Jahren. Am 1. Januar 1905 etwa registrierte das Sonnblick-Observatorium -37,4 Grad, die tiefste dort gemessene Temperatur. Die größte jemals gemessene Schneehöhe Österreichs, 11,9 Meter, wurde am 9. Mai 1944 erreicht. Neben den Standard-Wetterwerten, die automatisch alle zehn Minuten per Datenleitung an die meteorologischen Netzwerke versendet werden, führen die Wetterdienstler "Augenbeobachtungen" durch, die etwa für den Flugverkehr und den Lawinenwarndienst eine Rolle spielen.

400 Klimastationen

in 80 Ländern weltweit gehören zum Global-Atmosphere-Watch-Programm (GAW) der World Meteorological Organization. Neben dem Sonnblick-Observatorium in Österreich gibt es auch Stationen auf der Zugspitze und dem Hohenpeißenberg in Deutschland sowie dem Jungfraujoch in der Schweiz. In dem Vorhaben soll der zunehmende Einfluss menschlicher Aktivitäten auf die Atmosphäre erfasst werden. Die Forscher beobachten unter anderem die Ozonschicht, erfassen Wetter- und Klimaänderungen und verfolgen die grenzüberschreitende Luftverschmutzung.

In den letzten Jahren haben sich am Sonnblick viele Projekte aus der Atmosphärenphysik und Atmosphärenchemie angesiedelt. Die exponierte Lage macht die Messung von extrem schwach konzentrierten, aber klimarelevanten Spurenstoffen möglich. Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 wurden auf dem Sonnblick frühzeitig erhöhte Radioaktivitätswerte gemessen, ähnlich schnell erfassten die Messinstrumente jene Staubteilchen, die 2010 durch den Ausbruch des Eyjafjallajökull in die Atmosphäre gelangten. Außerdem laufen Studien zum Gletscherrückgang und zu Permafrost-Veränderungen, zur Höhenmedizin und zur Biologie - interdisziplinäre Umweltforschung auf höchstem Niveau.

Die Sphinx-Forschungsstation auf dem Jungfraujoch liegt auf 3571 Metern noch höher als das Sonnblick-Observatorium. Aber der Vorteil der österreichischen Station ist ihre Abgeschiedenheit mitten im Nationalpark Hohe Tauern. Im weiten Umkreis gibt es keine Stadt, keine Industrie, kein Skigebiet. Während das Jungfraujoch mit einer Zahnradbahn erreichbar ist und pro Saison bis zu eine Million Besucher anzieht, muss man sich den Sonnblick mit eigener Muskelkraft erarbeiten, was den Touristenstrom deutlich reduziert.

15 Tage lang am Stück bleibt Thomas Krombholz oben

Der Weg führt vom Rauriser Tal gut 1500 Höhenmeter hinauf, über felsige Steilstufen, vorbei an gefrorenen Wasserfällen, in Serpentinen über Steilhänge, über den Gletscher bis zum Gipfel. Bis Ende Mai liegt meist noch genug Schnee, um die Strecke mit Tourenskiern zu bewältigen. Vier bis fünf Stunden dauert der Aufstieg. Nur die Wetterdienstler dürfen die Materialseilbahn zum Gipfel benutzen - 20 Minuten Fahrt in einer offenen Kiste.

15 Tage lang am Stück bleibt Thomas Krombholz oben, dieses Mal zusammen mit seinem Kollegen Andreas Wiegele. Damit es nicht zu einer zwischenmenschlichen Klimakatastrophe kommt, wurde die Station komfortabel ausgestattet. Die Wetterdienstler wohnen in eigenen Zimmern, es gibt einen Aufenthalts- und Arbeitsraum mit großem Fernseher, eine geräumige Wohnküche, eine Indoor-Kletterwand, ein Rudergerät, einen Ergometer und sogar eine kleine Sauna. Nachschub für die Küche wird mit der Seilbahn ins Haus geliefert.

Wenn der Himmel mal klar ist, sieht man morgens einen prachtvollen Sonnenaufgang und abends ein sensationelles Panorama-Alpenglühen. Gegenüber ist der Großglockner, und an Tagen mit besonders guter Sicht erkennt man den 300 Kilometer entfernten Böhmerwald mit bloßem Auge. Krombholz und Wiegele haben einen Beruf mit hervorragenden Aussichten - jedenfalls, wenn das Wetter mitspielt.

"Unsere Teletubbie-Verkleidung", witzelt er

Im Moment schneit es allerdings so stark, dass Krombholz beschließt, noch mal schaufeln zu gehen auf der Terrasse, auf der die Antennen, Saugrohre und Fühler stehen für die Messgeräte in den Laborräumen. Er zieht sich einen dunkelblauen Overall über, "unsere Teletubbie-Verkleidung", witzelt er, nimmt die Handschuhe und steigt in die extrawarmen Stiefel. 4,90 Meter Schnee liegen Anfang April auf dem Gipfel, und es scheint noch einiges zu kommen.

Einerseits viel Schaufelei, andererseits reicht dann die Unterlage vielleicht sogar bis Anfang Juni bis ins Tal hinunter. Krombholz ist begeisterter Skitourengeher und fährt die 1500 Höhenmeter besonders gern im Frühjahrsfirn ab. Der Sonnblick ist im April und im Mai ein begehrtes Skitourenziel. Direkt neben dem Observatorium steht das Zittelhaus, eine Alpenvereinshütte, in der man sich nach dem langen Aufstieg bei einer heißen Suppe erholen und auch übernachten kann.

Wenn einer der Besucher vor dem Zittelhaus auf der Terrasse steht und eine Zigarette raucht, registrieren das die empfindlichen Luftmessgeräte des Observatoriums sofort, die Diagramme weisen dann "Raucherspitzen" auf. Am Schlafzimmerfenster des Hüttenwirts haben die Techniker einen Kontakt angebracht, der ein Signal an die Software weiterleitet; denn wenn der Wirt lüftet, zeigen die Geräte einen sprunghaften Temperaturanstieg, der die Messreihen verfälschen könnte. Und wenn in Bayern wieder mal besonders viele Leute ihre Holzöfen anheizen, registriert Krombholz dies auf dem 200 Kilometer entfernten Berg als "Ferntransport" von Ruß- und Staubteilchen.

Das Projekt klingt mysteriös

Damit innerhalb der Station keine Emissionen, etwa aus der Küche, in die Ansaugvorrichtung der Messanlagen gelangen können, wird das Innere des Hauses unter leichtem Unterdruck gehalten. Die dabei angesaugte Luft wird 20 Meter höher über den Turm nach oben ausgeblasen. Damit wird gleichzeitig die Temperatur in den Räumen reguliert, die Messgeräte wärmen stärker als eine Zentralheizung. Der Strom kommt per Kabel aus dem Tal, ein Dieselgenerator würde die Messungen stören.

Bei einem Kontrollgang durch die engen Laborräume kommt Krombholz vorbei an einem Glaskolben, in dem Wasser blubbert, daneben steht ein Apparat, der das "atmosphärische Eigenleuchten des OH-Moleküls in 83 Kilometern Höhe" untersucht. Das Projekt des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und der Uni Augsburg klingt mysteriös. Aber bei der unscheinbaren Infrarotspektrometer-Messung geht es ums globale Klima.

Wenn sich die Temperatur an der Meeresoberfläche nur um ein Zehntel Grad ändert, führt das in der oberen Mesosphäre bis 85 Kilometer zu Änderungen von etwa zehn Grad; und dies kann man anhand des OH-Moleküls nachweisen. Die Messungen sollen helfen, meteorologische Vorhersagemodelle zu verbessern. So könnten zum Beispiel schwere Regenstürme zwei bis drei Wochen früher prognostiziert werden anstatt nur drei Tage im Voraus wie bisher.

Schon zu Römerzeiten wurde hier Gold abgebaut

Dass bereits vor 130 Jahren ein Observatorium ins Hochgebirge gepflanzt wurde, hat auch historische Gründe. Schon zu Römerzeiten wurde hier Gold abgebaut. Zeitweise arbeiteten bis zu 3000 Männer in den Stollen. Der Rauriser Bergwerkbesitzer Ignaz Rojacher ließ die Goldära im 19. Jahrhundert noch mal aufleben. Er baute zusammen mit dem Meteorologen Julius Hann das erste Observatorium auf dem Gipfel. Hilfreich für dieses Projekt war der bereits bestehende Schrägaufzug von Kolm (1600 Meter) zur damaligen Bergstation auf 2177 Metern. Er war für den Transport von Erz und Arbeitern errichtet worden. Der Lift wurde mit Gletscherwasser angetrieben und hievte das Baumaterial immerhin einen Teil der Strecke hoch.

Die damaligen Wissenschaftler wiederum wollten die höheren Luftschichten erforschen, eines der gemeinsamen Ziele nach dem zweiten Weltkongress der Meteorologen 1879 in Rom. Über die Jahre hinweg arbeiteten immer wieder renommierte Forscher auf dem Sonnblick. 1922 nahm Alfred Wegener, der Entdecker der Kontinentalverschiebung und der Plattentektonik, an einer wissenschaftlichen Tagung auf dem Gipfel teil. 1927 vervollständigte hier der österreichische Physiker und Nobelpreisträger Viktor Franz Hess seine Messungen der kosmischen Strahlung.

Ihm gefällt es, über den Dingen zu stehen, er mag die Einsamkeit und die Natur

Meistens bleibt es aber sehr ruhig, so wie an diesem wolkigen Nachmittag Ende März. Nur der Wind macht Geräusche, vor dem Zittelhaus schlackert die Fahne mit dem Edelweiß-Emblem des Alpenvereins um die Stange herum. Die Aussichten: 74174, Nebeltreiben mit Schnee, dichte Wolken. Schlecht für Panoramafotos, gut für bestimmte Messungen: Um herauszufinden, wie stark Aerosole und andere Schadstoffe in Schnee und Regen konzentriert sind, muss man die Luftwerte in Wolkenhöhe messen - was auf dem Sonnblick perfekt funktioniert. Und die Menschen in diesem Wolkenlabor sind trotz aller Automatisierung unerlässlich: "Das Personal garantiert, dass die Versuchsreihen durchgehend laufen und ordentlich betreut werden", sagt Bernhard Niedermoser.

Obwohl seine Berufsaussichten manchmal trüb sind und seine Aufstiegschancen auf dem 3106 Meter hohen Gipfel ziemlich ausgereizt, ist Krombholz gerne hier. Ihm gefällt es, über den Dingen zu stehen, er mag die Einsamkeit und die Natur, er hat Geduld. Er wird auch nicht nervös, wenn der Föhnsturm an den verschachtelten Gebäuden rüttelt. Die Station ist so konstruiert, dass sie Wind bis 250 Kilometer pro Stunde, Schneelasten bis zu 1000 Kilogramm pro Quadratmeter und Temperaturunterschiede von bis zu 50 Grad zwischen innen und außen verkraftet.

"Ich bin eher der ruhige Typ", sagt Krombholz. Ihm kommt es nach den Tagen auf dem Gipfel schon auf der wenig befahrenen Landstraße durch das Rauriser Tal zu stressig vor, wenn ein Einheimischer hinter ihm zu dicht auffährt. "Dann will ich eigentlich sofort wieder hoch."

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