Medizin:Ein falsches Komma - und der Patient ist tot

Intensivstation der Herzchirurgie Universitätsklinik Köln

Wo Geräte bedient werden, passieren Fehler.

(Foto: Oliver Berg, dpa)

Selbst ein kleiner Fehler in der Programmierung medizinischer Geräte kann Leben kosten. Und die Technik ist nicht intelligent genug, um sie zu erkennen.

Von Christopher Schrader

Die Sache war eigentlich ganz einfach: Dem Patienten war als Notfalltherapie das Präparat Heparin verordnet worden, das die Blutgerinnung hemmt - mit einer Dosierung von zwei Milliliter pro Stunde. Auf dem Infusionsgerät, das die Arznei in die Vene des Patienten spritzte, las die Pflegekraft eine Flussrate von einem Milliliter pro Stunde ab. Also erhöhte sie den Wert um einen Punkt und wandte sich anderen Aufgaben zu.

Es dauerte eine Weile, bis der Fehler auffiel. Das Infusionsgerät hatte nicht 01 angezeigt, sondern 81. Nun stand der Wert bei 82 - es floss mehr als das Vierzigfache der verordneten Dosis in den Arm des Patienten. Laut dem anonymen Report Nr. 115132, der bei der Ärztekammer Berlin über den Fall angelegt wurde, erlitt der Mann keinen Schaden. In anderen Fällen führte eine zehnfache Überdosierung zu heftigem Bluthusten, und eine irrtümliche Verdopplung der Heparingabe nach einer Operation löste Nachblutungen aus, die einen weiteren Eingriff erforderten.

Mediziner versuchen seit Jahrzehnten, solche Fehler einzudämmen. Sie benennen Faktoren wie den Stress der Pflegekräfte, die Lichtverhältnisse bei Nachtschichten, sie fordern das Vier-Augen-Prinzip und haben Verfahren geschaffen, um anonym und transparent Fehler zu berichten. Harold Thimbleby von der Universität Swansea hingegen sucht die Ursachen früher, in der Ausbildung der Informatiker, die elektronische Geräte entwerfen und programmieren. "Wir dürfen das vermeintlich einfache Eingeben von Zahlen nicht mehr unterschätzen", forderte er vor Kurzem im Journal Open Science der Royal Society. "Hersteller müssen sich mehr Gedanken über mögliche Fehler machen. Wie sie entstehen, wie man sie erkennt und vermeidet oder korrigiert, damit keine überforderten Krankenschwestern mehr vor Gericht kommen."

Auch Todesfälle hat es schon gegeben, weil Infusionsgeräte falsch programmiert wurden: In Hamburg kam 2006 ein vierjähriger Junge um, der nach einer Routine-Operation eine verzehnfachte Dosis Glukose erhalten hatte. Der Chefarzt der Klinik vermutete damals, die verantwortliche Ärztin habe 500 statt 050 eingetippt. Und in den USA verlor ein Neugeborenes sein Leben, als die Dosierung seines Medikaments von 3,2 auf 3,4 Milliliter pro Stunde erhöht werden sollte. Es bekam wegen eines Tippfehlers 304 Milliliter pro Stunde.

Solch fatalen Fehlern möchte der Informatiker Thimbleby mit einem neuen Konzept vorbeugen: er nennt es interaktive Zahlensysteme. Eine Gefahr sei, dass das Eingeben von Ziffern unmittelbare Wirkung hat, anders als wenn man mit Stift und Papier arbeitet. Elektronische Geräte aber interpretieren Eingaben meist schon beim Tippen.

"Oft trifft ein Computer voreilige Entscheidungen, die den Sinn dessen ändern, was der Benutzer eingegeben hat", sagt Thimbleby. Zum Beispiel verwerfen manche Geräte Tastendrücke, die nicht ins Schema passen. Das sei zwar leicht zu erkennen, wenn der Nutzer die Augen immer wieder von der Tastatur abwendet und auf das Display richtet, so der Forscher. "Aber gerade in Stress-Situationen konzentrieren sich Leute auf ihre Finger. Dann passieren unbemerkt Fehler." Dabei geht es weniger um falsche Ziffern, sondern oft um Sonderzeichen wie plus, minus, mal sowie Punkte und Kommas.

"Leider gibt es keinen Mach-einfach-was-ich-meine-Knopf", seufzt Markus Dahm, der an der Hochschule Düsseldorf Software-Ergonomie lehrt. Geräte könnten ja nicht wissen, bei welchem Zeichen der Benutzer womöglich einen Fehler macht. Die Eingabe wie beim Taschenrechner erst beim "=" oder "OK" zu interpretieren und womöglich zu reklamieren, sei vielleicht klüger. "Aber nerven will man die Leute ja auch nicht. Es wird immer Situationen geben, wo etwas Falsches herauskommt."

Die Charité tauscht Tausende Infusionsgeräte aus - damit alle die gleiche Tastatur haben

Dahm kennt zudem seine Klientel: "Viele Programmierer können sich nur begrenzt vorstellen, welche Fehler Anwender machen", warnt er. Das sei ein zentrales Problem seiner Disziplin. Auch das Zauberwort von der "intuitiven Benutzerführung" helfe nicht immer weiter, weil die Intuition nicht für jeden Nutzer gleich funktioniere. Dahm bekennt zum Beispiel, neulich selbst daran gescheitert zu sein, die Heizungsanlage seines Nachbarn ohne Gebrauchsanleitung zu bedienen. Bis vor Kurzem sei das Stichwort der ,Usability' eben nicht unbedingt Teil des Ingenieur-Studiums gewesen. Dabei würde es helfen, die Bedienbarkeit von Geräten schon in der Entwicklungsphase an Laien zu testen.

Besonders gefährlich sind Probleme mit Zahlen in der Medizin. Allein beim Programmieren von Infusionsgeräten machten Pflegekräfte in einem von 25 Fällen Fehler, zeigten Thimblebys Experimente. "Meist waren es keine gravierenden Fehleingaben, aber auch das kommt immer mal wieder vor." Ein großer Teil des Problems ist, dass jeder Gerätehersteller seine eigenen Bedienkonzepte einbaut und es zahlreiche Varianten gibt. Wenn Geräte oder Personal zwischen Stationen wechseln, müssen Pflegekräfte oft umdenken.

Daher hat sich die Charité in Berlin kürzlich entschieden, mehrere Tausend Infusionsgeräte auszutauschen, und so ihre Ausstattung vereinheitlicht. "Mit der Standardisierung wollen wir potenzielle Unsicherheiten beim Umgang mit unterschiedlichen Geräte vermeiden", sagt Nils Löber, der dort für klinisches Qualitäts- und Risikomanagement verantwortlich ist. "Was wir brauchen, sind technisch einheitliche Lösungen, die Bedienungsfehler begrenzen, idealerweise verhindern."

In Großbritannien ist aus ähnlichen Gründen bereits eine Art Design-Handbuch für klinische Infusionsgeräte aufgelegt worden. Es verlangt zum Beispiel, dass Zahlentastaturen immer die 1 oben links haben - also so wie beim Telefon, und anders als beim Taschenrechner. Die Null und der Dezimalpunkt sollen zudem unter dem Zahlenblock liegen, aber nicht direkt nebeneinander. Start und Stop sollen klar getrennt sein. Jeder Tastendruck muss einen Quittungston auslösen, und mehrere Funktionsebenen der Bedienungselemente, zwischen denen man mit einer Taste hin und her schaltet, sind zu vermeiden. Das kann nämlich dazu führen, dass entscheidende Größen verwechselt werden. So sollte eine Krankenschwester in einem amerikanischen Fall bei einem Baby eine Infusion mit nur wenig Wirkstoff starten, doch sie speicherte die entsprechende Zahl als kurze Dauer ein.

Andere Hinweise richten sich - ganz im Sinne von Harold Thimbleby - auf die Darstellung von Zahlen. Die ISMP-Regeln (herausgegeben von Institute for Safe Medication Practices in Pennsylvania) verlangen zum Beispiel, dass Dezimalzahlen immer mit einer Ziffer beginnen, also "0,5" statt ",5", weil letzteres zu leicht mit 5 verwechselt werden kann. Dagegen soll "1,0" vermieden werden, weil es jemand in der Hektik als "10" lesen könnte, genau wie Brüche, weil aus "1/4" vielleicht "114" wird. Und wer in ein vierstelliges Display "0050" eintippen muss, kann die 5 leicht an eine falsche Stelle setzen; besser - auch für das Ablesen - wäre " 50".

Thimbleby hat auch bereits ein Vorbild für die neue Sicherheitskultur, die er sich wünscht: die Autoindustrie. "Wir haben bei den Herstellern von elektronischen Geräten heute noch Verhältnisse wie bei den Autoherstellern, bevor Ralph Nader aktiv wurde." Der amerikanische Verbraucherschützer kritisiert seit den 1960er-Jahren Sicherheitsmängel von Autos. Seither bestimmen Fehlererkennung, -vermeidung und -korrektur zunehmend das Denken, Autopassagiere und Fußgänger sollen Fehler möglichst überleben können, die durch Leichtsinn, Unachtsamkeit oder Hektik passieren. "Auch in der Informationstechnik sollte die Regel sein, dass man Benutzern hilft, Fehler zu vermeiden", fordert Thimbleby - anstatt sie später dafür verantwortlich zu machen.

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