Medizin und Schicksal:Das Leben bestellen, prüfen, wegwerfen

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Philosophen, Mediziner, Bioethiker und Theologen beklagen, dass dem Schicksal in der Medizin kaum mehr Raum gelassen wird.

Britta Verlinden

Herzinfarkt, Knochenschwund, Dickdarmkrebs, Schlaganfall - es gibt kaum ein Leiden, dem nicht schon der Slogan gewidmet wurde: Krankheit ist kein Schicksal. Ratgeberbücher, Medikamentenreklame und Aufklärungskampagnen leben von dem Motto. Zu Recht wird auf Möglichkeiten der Vorbeugung verwiesen. Wer sich regelmäßig bewegt, gesund ernährt und aufs Rauchen verzichtet, senkt bekanntermaßen sein Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Dank pränataler Diagnostik können Ärzte Fehlbildungen des Fetus erkennen, von denen die Eltern sonst bei der Geburt überrascht worden wären. Andererseits führt dies dazu, dass sich 96 Prozent der Schwangeren, bei deren Kind eine Trisomie 21 diagnostiziert wurde, zur Abtreibung entschließen. (Foto: iStockphoto)

Doch lässt sich einer Erkrankung wirklich jegliches schicksalhafte Element absprechen? Wie damit umgehen, dass Menschen trotz aller präventiven Bemühungen krank werden - und sterben? Über diese Fragen diskutierten Philosophen, Mediziner, Ethiker und Theologen am vergangenen Wochenende in der Universität Freiburg.

"Das Schicksal bestimmt nach wie vor das ganze Leben"

Die Veranstaltung mit dem Titel "Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheit des Lebens und medizintechnischer Gestaltbarkeit" bildete zugleich den Auftakt für eine Tagungsreihe des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin.

Die Angst, das Leben nicht vollständig unter Kontrolle zu haben, beherrscht den Menschen. Er kann das Schicksal nicht bewältigen, also versucht er, es zu eliminieren. Da gibt es die Routine der Arbeit mit vollen Terminkalendern, das Familienleben mit geplanten Freuden und natürlich die eigene Gesundheit, die sich dem Diktat medizinischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse zu unterwerfen hat. Man isst gesund, hält sich fit, sorgt für Entspannung und hofft so auf ein bisschen Unsterblichkeit. Das Ende des Schicksals?

"Der Mensch übersieht, dass das Schicksal nach wie vor sein ganzes Leben bestimmt", sagt Giovanni Maio, Leiter des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin und Veranstalter der Tagung. Für den Bioethiker betrachten die Menschen Gesundheit heute nicht mehr als gegeben, sondern als Resultat der eigenen Lebensführung, als etwas Gemachtes.

Im Umkehrschluss, so Maio, werde Kranken unterstellt, sie hätten nicht genug für ihre Gesundheit getan. Diese Schuldzuweisung erstrecke sich inzwischen sogar auf das Verständnis von Sterben und Tod, Zeugung und Geburt. "Das werdende Leben ist zum Produkt geworden", so Maio. "Es kann bestellt, geprüft, abbestellt und weggeworfen werden."

Die Frage nach der Bedeutung des Schicksals ist uralt, sagt der Freiburger Theologe Markus Enders. In der Antike verband man es mit der Vorstellung einer über allen Göttern stehenden Macht, mit dem Gesetz des Kosmos. Schicksal wurde als "launisches, ungerechtes Wesen" beschrieben, das grausam und gefühllos mit jenen umgeht, die sich ihm unterwerfen. Das schürte die Angst vor dem Unberechenbaren - es verwundert nicht, dass Menschen sich davor schützen wollten.

Der Versuch, sich vom Schicksal zu verabschieden, ist ein Anspruch des modernen Menschen, der, so Maio, "bis zu einem gewissen Grad berechtigt" sei. Es sei ein legitimes Anliegen, sich gegen die Unbill der Natur zur Wehr zu setzen. Die Abschaffung des Schicksals werde schließlich auch von der Vorstellung der Freiheit begleitet.

Mit den medizintechnischen Errungenschaften ergeben sich nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Zunächst erscheint diese Auswahl wie ein Zugewinn an Freiheiten. Doch aus dem Wählenkönnen wird ein Wählenmüssen: Setzt nicht der eigene Anspruch den Menschen unter Druck, so übernehmen dies gesellschaftliche Zwänge.

Ein Beispiel ist die Pränataldiagnostik. Für Hermann Hepp, den ehemaligen Leiter der Münchner Frauenklinik, zeigt die Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft, wie "janusköpfig" Prävention sein könne. Es gebe viele positive Aspekte, etwa wenn bei der Untersuchung Fehlbildungen des Kindes oder des Mutterkuchens entdeckt werden, von denen man früher bei der Geburt überrascht worden wäre.

Heute können sich Ärzte wie werdende Eltern darauf vorbereiten. Doch immer öfter treiben Frauen bei Fehlbildungen des Fetus ab, die mit dem Leben vereinbar wären: "Hier gilt der Schwangerschaftsabbruch als Therapie", so Hepp. 96 Prozent der Schwangeren, bei denen festgestellt wird, dass ihr Kind eine Trisomie 21 aufweist, entscheiden sich für eine Abtreibung. Und die Mehrzahl der Frauen wertet ihre Zustimmung zur Pränataldiagnostik als verantwortungsbewusste Entscheidung - ganz so, als sei es unverantwortlich, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen.

Vollständig lässt sich das Schicksal nie aus der Medizin verbannen, da waren sich alle Referenten einig. Die Wissenschaft hat zwar einen Stand erreicht, der noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Bereits vor Einnistung eines Embryos lässt sich dessen Genom untersuchen. Im Operationssaal übernehmen Roboter die Arbeit. Die Lebenserwartung steigt. Und doch droht weiter das Unberechenbare: Krebs, Herzinfarkt, der tödliche Unfall. Bei allem Fortschritt bleibt die Angst.

Normwerte werden gesenkt, um neue Krankheiten zu definieren

Dabei könnte die Überzeugung von einem Schicksal, das alle Menschen verbindet, etwas Tröstliches haben, ja sogar als Grundgedanke hinter dem Solidaritätsprinzip der Krankenversicherung stehen: Jeden kann es treffen, also stehen alle füreinander ein.

Doch tatsächlich würden Normwerte gesenkt, um neue Krankheiten zu definieren, für die wiederum Leitlinien aufgesetzt und befolgt werden, kritisiert Bernd Hontschik. Ginge es nach dem Frankfurter Chirurgen, gäbe es längst eine "Leitlinie Schicksal".

In der Thure-von-Uexküll-Akademie setzt sich Hontschik für eine Integrierte Medizin ein - gegen die Trennung in "eine Medizin für Körper ohne Seele und eine Medizin für Seelen ohne Körper". Hontschik plädiert dafür, dass nur Ärzte über eine medizinische Behandlung entscheiden, die "unabhängig und frei von jedem ökonomischen Zwang" arbeiten.

In Freiburg war immer wieder die Klage zu hören, dass sich das Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft entwickele, der Arzt zum Dienstleister und der Patient zum Kunden werde - und Gesundheit zur Ware verkomme. Was klingt, als wären die Redner vom Thema Abschaffung des Schicksals abgekommen, hängt eng damit zusammen.

Aus Angst vor Kontrollverlust wenden sich die Menschen an eine scheinbar allmächtige Medizin, die ihrerseits dem Fortschrittsglauben verfallen ist - und sich etwas anderes auch nicht leisten kann. So werden Unwägbarkeiten wie eine neue Nebenwirkung, Therapieversagen oder der Tod auf dem Operationstisch nicht thematisiert oder statistisch heruntergerechnet.

"Eine Klinik wirbt eben nicht mit ihren Grenzen", sagt Maio. Gutes Marketing lasse keinen Raum für Unsicherheit oder Scheitern. Er werde manchmal gefragt, wie er es befürworten könne, Kranke zu vernachlässigen. Es seien falsche Garantieversprechen, die Patienten im Stich lassen, entgegnet Maio. "Eine humane Medizin muss zu ihren Grenzen stehen, sie thematisieren, sie als das Natürlichste der Welt zur Sprache bringen."

Experten wie Laien im Publikum nicken. Kollegen und Studenten vieler Fakultäten sind gekommen. Themen wie die Erwartungen Schwerkranker an die Medizin, das Sterben als Verdichtung des Lebens und die Annahme des eigenen Todes betreffen über die Heilkunde hinaus alle Menschen, auch wenn selten darüber gesprochen wird. "Der eigentliche Grund für die Sehnsucht nach Kontrolle ist doch die gesellschaftliche Tabuisierung von Tod und Sterben", sagt Fritz von Weizsäcker, Chefarzt für Innere Medizin in Berlin.

© SZ vom 24.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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