Medizin-Nobelpreis:Wofür der Medizin-Nobelpreis vergeben wurde

Yoshinori Ohsumi

Nobelpreisträger Yoshinori Ohsumi mit Autophagiebildern.

(Foto: Akiko Matsushita/AP)

Der Nobelpreisträger für Medizin, Yoshinori Ohsumi, hat das "Selbstaufessen" erforscht. Dieser Prozess der Autophagie lässt Körperzellen sich selbst aufräumen. Wissenschaftler bringen ihn mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung.

Von Kathrin Zinkant

Eines muss man dem Nobelpreiskomitee am Stockholmer Karolinska-Institut lassen: Alle paar Jahre besinnt es sich auf den Stifter des höchsten Wissenschaftspreises, Alfred Nobel - und zeichnet jemanden aus, der die Forschung wirklich fundamental vorangebracht hat. Auch wenn bis zur letzten Minute mal wieder niemand an diese Person gedacht hat. Der 71-jährige Yoshinori Ohsumi vom Tokyo Institute of Technology erhält den Preis für seine "Entdeckungen zum Mechanismus der Autophagie". Ohsumi hat demnach grundlegend dazu beigetragen, einen Prozess zu verstehen, mit dem sich Zellen in Stresssituationen von ihrem eigenen Ballast befreien. Es ist erst das vierte Mal, dass ein Japaner mit der höchsten Ehrung im Bereich Medizin oder Physiologie ausgezeichnet wird. Zuletzt hatte vor vier Jahren Ohsumis Landsmann Shinya Yamanaka den Medizinnobelpreis erhalten. Er wurde für die Entdeckung der sogenannten iPS-Zellen geehrt; die zugrunde liegende Arbeit war damals erst wenige Jahre alt.

Unter Stress transportieren kleine Bläschen Ballast ab

Das jetzt ausgezeichnete Werk blickt da doch auf eine längere Geschichte zurück. Sie nahm ihren Anfang schon vor Jahrzehnten. Dass Zellen unter Stress beginnen, ihre eigenen winzigen Organe in kleinen Bläschen abzubauen, hatten Biologen bereits in den 1960er-Jahren beschrieben. Der Belgier Christian de Duve, seinerseits ein späterer Nobelpreisträger, prägte 1963 den Begriff der Autophagie, des "Selbstaufessens", weil die Zelle mithilfe der Bläschen unbrauchbare Teile von sich selbst praktisch verdaut. Die Mechanismen des Vorgangs blieben aber im Dunkeln - bis Ohsumi 25 Jahre später seine Arbeiten an der Bäckerhefe begann. Der schlichte Modellorganismus eignete sich zwar nur bedingt für die Untersuchungen, doch mithilfe eines genetischen Tricks gelang es dem Grundlagenforscher bald, die typischen Bläschen der Autophagie in den Hefezellen deutlich sichtbar zu machen.

Autophagie Nobelpreis Tages-Anzeiger

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(Foto: Tages-Anzeiger)

Ohsumi konnte nun gezielt nach dem Code im Erbgut suchen, der den Prozess steuert. Nach und nach fand der Zellbiologe - dank seiner "eleganten" Versuche, wie das Nobel-Komitee anmerkt - eine Kaskade von Genen und zugehörigen Eiweißen, die für den Vorgang der Autophagie unentbehrlich sind. Die vielfältigen Proteine fangen ein Stress-Signal auf und werfen daraufhin Ballast ab: Sie leiten die Bildung der kleinen Bläschen ein, die sich um die zu beseitigenden Objekte bilden, und vermitteln auch den Abtransport. Beim Abfall kann es sich um große Eiweißkomplexe handeln, oder aber um komplette Zellorgane, wie zum Beispiel überzählige Energiefabriken der Zelle, Mitochondrien genannt.

Der Japaner setzt sein Werk bis heute fort. "Ohsumi hat die entscheidenden Gene später auch in höheren Organismen nachgewiesen", sagt Thomas Sommer vom Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin. Sommer untersucht ein ähnliches System in Zellen, den Ubiquitin-gesteuerten Proteinabbau. Auch dieses System ist zuständig für die Vernichtung von Abfällen in der Zelle. Für dessen Entdeckung hatten der Amerikaner Irwin Rose und die Israelis Avram Hershko und Aaron Ciechanover 2004 den Chemie-Nobelpreis erhalten.

Autophagie wird mit einer Vielzahl von Erkrankungen bis hin zu Krebs in Verbindung gebracht

Autophagie ist ein zusätzliches, aber ebenso unentbehrliches System, im Grunde verhalten sich die beiden Aufräummechanismen zueinander komplementär. "Es sind sehr genau regulierte, aufeinander abgestimmte Prozesse", erklärt Peter-Michael Kloetzel, der an der Berliner Charité das Proteolytische Labor leitet. "Es ist deshalb auch naheliegend, dass Störungen in diesem kommunikativen System zu Fehlfunktionen führen". Tatsächlich wird die Autophagie heute mit einer Vielzahl von Erkrankungen bis hin zu Krebs in Verbindung gebracht. Dass so viele Forscher auf dem Feld arbeiten, auch das sei ein Zeichen dafür, wie bedeutsam die Entdeckungen des Japaners gewesen seien, sagt Sommer.

Tatsächlich interessieren sich insbesondere Neurobiologen für das Phänomen, sie glauben, dass es einen Zusammenhang mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Chorea Huntington geben könnte. "Wir wissen heute, dass die Autophagie in alternden Nervenzellen oft nicht mehr richtig funktioniert", erklärt Volker Haucke vom Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie in Berlin-Buch. Man suche deshalb nach Wirkstoffen, die den Prozess stimulieren. Thomas Sommer aber warnt: Man dürfe nicht voreilig davon ausgehen, dass die Autophagie eine Möglichkeit biete, Alzheimer zu heilen. "Es ist bis heute nicht klar, ob Proteinablagerungen die Ursache, oder nur ein Symptom dieser neurodegenerativen Erkrankungen seien". Vergleichbares gelte für eine Rolle der Aufräumprozesse in der Entstehung von Krebs.

Dennoch sind sich die Fachleute einig, dass die Vergabe des Preises an den Japaner absolut in Ordnung geht. "Er ist ohne Zweifel der richtige Mann", sagt Kloetzel. "Seine Entdeckungen haben uns ermöglicht, die Rolle der Autophagie in Säugetieren zu untersuchen und zu verstehen", sagt David Rubinsztein von der University of Cambridge. Ohsumi gilt nach Ansicht des Neurogenetikers nicht nur zu recht als "Vater" der Autophagieforschung. "Wofür Ohsumi außerdem ausgezeichnet werden sollte ist, dass er ein sehr guter Mentor ist", sagt Rubinsztein. Thomas Sommer hat den Nobelpreisträger mehrfach getroffen. Er beschreibt den 71-Jährigen als einen bescheidenen Mann, dem jeder Wirbel um seine Person fremd sei und der sein ganzes Leben der Forschung gewidmet habe. "Ich freue mich persönlich für ihn", sagt Sommer. Mit dem Preis für diesen Wissenschaftler habe das Nobelpreiskomitee ein wichtiges Signal gesetzt: "Es geht bei diesem Preis doch um die Frage: Wer stößt die Tore für völlig neue Forschungsfelder auf?", sagt der Biologe. Ohsumi sei ein Mann, der genau dies getan habe.

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