Medizin:Der bittere Kampf

Ein Leben in der Eisernen Lunge, deformierte Beine: Erst die Polio-Impfung nahm der Kinderlähmung ihren Schrecken.

Von Kathrin Zinkant

Wenn Gesundheitsexperten heute von Polio sprechen, kann in den westlichen Industrienationen kaum noch jemand etwas mit dem Begriff anfangen. Das ist einerseits das Ergebnis einer großen Erfolgsgeschichte in der Medizin. Andererseits ist es ein Zeichen dafür, dass dieser Erfolg gefährdet ist - und somit nichts weniger droht, als die Rückkehr eines der grausamsten Erreger des frühen 20. Jahrhunderts. Was aber ist das für ein Virus?

Mediziner kennen drei Typen des Polioerregers. Alle sind zwar sehr ansteckend, das Virus wird vor allem durch Kot und Speichel übertragen. Jedoch entwickeln Erwachsene mit einem intakten Immunsystem nach der Infektion selten Symptome, weshalb sie das Virus unbemerkt verbreiten können. Erst wenn der Erreger auf eine unreife oder geschwächte Körperabwehr trifft, treten Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit, und Gliederschmerzen auf. Bei einem kleinen, aber substanziellen Teil der Patienten dringt das Virus schließlich ins Zentrale Nervensystem ein. Je nachdem, ob das Rückenmark, das Stammhirn oder beide Teile des ZNS betroffen sind, führt die Infektion zu Lähmungen. In seltenen Fällen ist die Atmung davon betroffen, häufiger der Bewegungsapparat. Manche Patienten bleiben dauerhaft gelähmt. Die Verwüstungen im Nervengerüst der Muskeln können bei Kindern, die noch wachsen, schließlich zu jenen schweren Verformungen der Füße oder Beine führen, die bei vielen Überlebenden augenfällig sind.

Vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts waren Ausbrüche selten, doch nach der Jahrhundertwende wurden sie häufiger und immer größer. Bald kam es in Europa und den USA alle fünf bis sechs Jahre zu Epidemien. Sie folgten einem saisonalen Muster: Das Virus tauchte etwa im Juni auf. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erreichten die Ausbrüche teils pandemische Ausmaße. Immer häufiger waren ältere Kinder betroffen, die besonders anfällig für Lähmungen und Folgeschäden sind. 1952 erkrankten in den USA schließlich fast 60 000 Menschen an Polio, mehr als jeder dritte Patient blieb dauerhaft gelähmt.

Patienten in der "Eisernen Lunge", 1953

Polio-Folgen, USA, 1953: Kinder mit gelähmten Atemmuskeln werden in Eisernen Lungen am Leben gehalten. Manche verbrachten ihr restliches Leben in den Maschinen.

(Foto: United Press)

Es wundert also nicht, dass Eltern zu jener Zeit kaum etwas so fürchteten wie die Kinderlähmung. Doch die medizinischen Möglichkeiten beschränkten sich auf die Linderung. Oder auf lebenserhaltende Maßnahmen, die bereits in den 1920er-Jahren entwickelt worden waren. Die Eiserne Lunge, erfunden von drei Harvard-Forschern, wurde zum Sinnbild der Polio-Epidemien - als verzweifelter Versuch, die Atemlähmungen der schwersten Poliofälle zu kompensieren. Manche Patienten blieben Jahre, einige für den Rest ihres Lebens in den großen Druckkammern liegen, die wie ein Blasebalg Luft in die schlaffen Körper sogen und wieder hinausdrückten.

Lebende Viren wurden durch aufwendige Behandlungen mit Chemikalien und Hitze abgeschwächt

Medizinern war daher früh klar, dass nur eine Impfung den Epidemien entgegenwirken konnte. Um überhaupt einen Impfstoff herstellen zu können, waren jedoch große Mengen des Erregers notwendig. Eine solche massenhafte Zucht von Polioviren gelang erstmals 1948. Für die Entwicklung eines Impfstoffs fehlte nun noch die richtige Strategie: Als Goldstandard galten in der Forschung damals lebende Viren, die durch aufwendige Behandlungen mit Hitze, Chemikalien oder ähnlichem abgeschwächt wurden. So konnten die Erreger sich zwar vermehren und eine Immunreaktion provozieren, ohne richtig krank zu machen. Auf diesem Weg gelang es dem aus Polen stammenden Pharmaforscher Hilary Koprowski und später dem gebürtigen Russen Albert Sabin, einen wirksamen Impfstoff herzustellen, der geschluckt werden konnte. Die heute legendäre Schluckimpfung schützte effektiv vor den schweren Folgen der Polio und hält ein Leben lang, allerdings blieb ihre Herstellung zunächst aufwendig. Zudem vermehren sich die Erreger im Darm und werden ausgeschieden. Impfviren dieser Herkunft findet man heute in vielen Teilen der Welt, sie können in der Umwelt reaktiviert werden und bei Ungeimpften zu schweren Erkrankungen führen.

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Als Durchbruch, der 1957 zur ersten Polio-Massenimpfkampagne der Geschichte führte und das Fundament für die heute übliche Schutzimpfung legte, gilt deshalb der Impfstoff des US-Immunologen Jonas Salk. Salk stiegt Ende der 1940er-Jahre in die Polioforschung ein und arbeitete mit abgetöteten Viren, die ins Blut gespritzt wurden. Salks Vakzine schützt zwar nicht so gut wie Schluckimpfung, ist aber sicherer, weil kein Virus ausgeschieden wird. Heute gilt die Salk-Impfung als erste Wahl. Bis 2013 konnte die Zahl der jährlichen Infektionen von mehreren Hunderttausend auf 416 Fälle weltweit gesenkt werden. Bislang ist es jedoch nicht gelungen, den Wildtyp des Poliovirus komplett auszurotten. Noch immer sind zu wenig Menschen geimpft.

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