Euthanasie:Experimente aus NS-Zeit holen Max-Planck-Gesellschaft ein

Euthanasie: Vor 1948 hieß die Forschungseinrichtung noch Kaiser-Wilhelm-Institut. Während der NS-Zeit wurde hier mit Zwangsarbeitern und behinderten Menschen experimentiert.

Vor 1948 hieß die Forschungseinrichtung noch Kaiser-Wilhelm-Institut. Während der NS-Zeit wurde hier mit Zwangsarbeitern und behinderten Menschen experimentiert.

(Foto: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem)
  • Ein Bericht von Historikern enthüllt große Defizite bei der Aufarbeitung der Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft.
  • Auch nach dem Krieg wurde weiter mit Gehirn-Präparaten von Euthanasie-Opfern gearbeitet.
  • Der Bericht zeigt, dass bei der nachträglichen Beisetzung der Präparate offenbar geschlampt wurde.

Von Christina Berndt

Der Bericht sollte Licht in die dunkle Vergangenheit der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) bringen. Doch das Dunkel war zu finster. Was zwei Medizinhistoriker im Auftrag der MPG über deren Umgang mit Gehirnpräparaten von Euthanasie-Opfern herausgefunden hatten, sollte lieber nicht ans Tageslicht. Die MPG gab nur ein paar trockene Pressemitteilungen heraus, der Bericht aber wurde nie veröffentlicht.

Nun liegt der Bericht vom Oktober 2015 der SZ vor, und er wirft tatsächlich kein gutes Licht auf Deutschlands berühmteste Forschungsorganisation. Auf 35 Seiten monieren Wolfgang Eckart von der Universität Heidelberg und Robert Jütte von der Robert-Bosch-Stiftung nicht nur das Verhalten einzelner Wissenschaftler und Archivare, sondern auch das der Generalverwaltung der MPG. "Alles deutet darauf hin, dass die Präparate von NS-Mordopfern so schnell wie möglich, so unauffällig wie möglich und so endgültig wie möglich entsorgt werden sollten und mit ihnen ein höchst problematischer Teil der MPG-Geschichte", schreiben Eckart und Jütte, die sich mit Verweis auf eine Schweigeklausel nicht persönlich äußern wollen.

Viele Forscher nutzten die Rechtlosigkeit des NS-Regimes aus

Die MPG räumt auf Anfrage Defizite in ihrer Vergangenheitsbewältigung ein. Doch sie wehrt sich gegen die Deutung, den Eckart-Jütte-Bericht wegen unliebsamen Inhalts im Giftschrank verschlossen zu haben: "Der Bericht war nur zur Information des Präsidenten gedacht", betont eine Sprecherin. In der Folge habe dieser ein hoch dotiertes Forschungsprojekt vergeben, das die NS-Euthanasie in der Geschichte der MPG umfassend untersuchen soll.

Seit Langem quälen die Geister der Vergangenheit die MPG, die 1948 aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) hervorging. In der NS-Zeit hatten viele Forscher die Rechtlosigkeit des NS-Regimes genutzt; gnadenlos wurde mit Zwangsarbeitern oder behinderten Menschen experimentiert. Mehrmals hat die MPG daher den Versuch unternommen, mit dieser Vergangenheit aufzuräumen. Anerkennung verdient vor allem der frühere Präsident Hubert Markl, der 1997 gegen innere Widerstände in der MPG eine unabhängige Historikerkommission beauftragte, um die Geschichte der KWG im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. In der Praxis verlief die Lossagung vom faschistischen Erbe jedoch nie reibungslos.

Noch viele Jahre nach dem Krieg wurde in der MPG an sterblichen Überresten von Opfern der NS-Diktatur geforscht - darunter Hunderttausende Hirnschnitte von behinderten Menschen, die im Rahmen der Euthanasie-Aktion T4 ermordet worden waren. Und als diese 1990 endlich auf internationalen Druck hin beerdigt werden sollten, wurde in der MPG vertuscht und geschlampt. Eckart und Jütte schreiben von einer "überhasteten Beisetzung der Hirnpräparate auf dem Münchner Waldfriedhof", die noch dazu höchst unwissenschaftlich erfolgte. So wurde nicht einmal dokumentiert, wessen Überreste beerdigt wurden. Dies habe "die personalhistorische Opferforschung behindert oder ganz unmöglich gemacht".

Es sollte nicht "in moralischer Hinsicht übertrieben" werden

Ihre letzte Ruhe sollten vor allem jene Präparate auf dem Waldfriedhof finden, die der Arzt Julius Hallervorden gesammelt hatte. Dieser war bis 1945 Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch. Dort hat er gemeinsam mit seinem Direktor Hugo Spatz 707 Gehirne untersucht, die "sicher oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit von Opfern der NS-Euthanasie stammten", wie der Tübinger Neuropathologe Jürgen Peiffer recherchiert hat. Dennoch wurde Hallervorden nach dem Krieg Abteilungsleiter am MPI für Hirnforschung in Gießen.

Dabei waren "zahlreiche sogenannte Euthanasiemorde nicht nur billigend, sondern vermutlich sogar auf Bestellung Hallervordens oder Spatzens durchgeführt worden", schreiben Eckart und Jütte. Dies hat der Berliner Historiker Götz Aly in den 1980er-Jahren festgestellt, obwohl MPI-Direktoren laut Eckart und Jütte seine Arbeit "zu sabotieren versuchten". Trotz dieser Erkenntnisse befand man im MPG-Archiv in Berlin, die Suche nach den zu bestattenden Präparaten solle nicht "einer ,Razzia' zu ähnlich", die "deutsche Gründlichkeit" nicht "in moralischer Hinsicht übertrieben" werden.

"Offenbar einfach in den Müll geworfen"

Doch das Ziel, mit der Geschichte abzuschließen, wurde schon wegen der "hektischen Unüberlegtheit" nicht erreicht, die die Verantwortlichen nach Meinung von Eckart und Jütte an den Tag legten: 2001 gab das Edinger-Institut der Universität Frankfurt plötzlich rund 100 Hirnschnitte aus dem Nachlass eines langjährigen MPI-Wissenschaftlers an das MPG-Archiv ab. Diese waren 1989 "offenkundig zurückbehalten worden", so Eckart und Jütte. Im MPG-Archiv beschloss man gemeinsam mit der Generalverwaltung, die wiederentdeckten Hirnschnitte aus der NS-Zeit einfach nicht zu beerdigen. "Das Skandalöse ist, dass 2001 nicht gleich alle Alarmglocken geschrillt haben", schreiben Eckart und Jütte. Dabei hatten Archivare bei einigen Präparaten Euthanasie-Verdacht gehegt, wie aus einem Aktenvermerk hervorgeht. So war die vierjährige Helga K. in Brandenburg-Görden verstorben - einer Tötungsanstalt, aus der Hallervorden Präparate von Ermordeten bezog.

Einige Präparate sind auf mysteriöse Weise verschwunden

Jahrelang lagerten die Hirnschnitte weiter im Archiv, bis ein emeritierter Direktor im Frühjahr 2015 auf sie stieß. Aufgeschreckt durch die Funde, untersuchten die Leiterin des Berliner Archivs und der Leiter des Historischen Archivs am MPI für Psychiatrie in München gemeinsam, welche Hirnschnitte es noch in Berlin gab. Dabei zeigte sich, dass einige der 2001 wiederentdeckten Präparate auf mysteriöse Weise erneut verschwunden waren. Die Leiterin des Berliner Archivs informierte die Generalverwaltung, kurz darauf begannen Eckart und Jütte ihre Arbeit.

Auch von der kleinen Helga K. fehlte ein Hirnschnitt. Im Präparatekasten fand sich nur ein lapidarer Zettel: "Keine Hirnschnitte vorhanden", ohne Datum, ohne Unterschrift. "Das ist ein krasser Verstoß gegen archivische Grundsätze", schreiben Eckart und Jütte. Sie fanden zu ihrem Entsetzen heraus, dass der Vermerk von einer Hilfskraft stammte. Im Archiv der MPG bearbeitete eine Studentin den Bestand aus einem der größten Unrechtsprojekte der Hirnforschung! Das "kann man nur als grob fahrlässig bezeichnen", bemerken Eckart und Jütte konsterniert. Manche Präparate seien sogar zerbrochen und "offenbar einfach in den Müll geworfen worden".

Auch in München forschte der Leiter des MPI-Archivs nach und fand eine Liste mit Namen von Patienten, deren Überreste 1990 angeblich beerdigt worden waren. Er musste nur eine Stichprobe von 15 Personen untersuchen, um ein nicht beerdigtes Präparat zu entdecken. Darauf wies er Eckart und Jütte hin und forderte eine genaue Untersuchung des Bestandes. Am Ende zogen Eckart und Jütte ein deutliches Fazit: "Der Präsident der MPG steht in der Pflicht, der Öffentlichkeit die damaligen Versäumnisse zu erklären und sich zu der Gesamtverantwortung zu bekennen."

Seit einigen Monaten erschließt die von Präsident Martin Stratmann berufene Forschergruppe nun die Euthanasie-Vergangenheit der MPG. Die Gesamtrevision sei abgeschlossen, heißt es. Demnach gibt es eine gewisse Erleichterung: Es sind keine weiteren Präparate mit fragwürdiger Vergangenheit aufgetaucht - und auch keine weiteren verschwunden. Eine Frage aber ist offen: Wie viele Hirnschnitte von NS-Opfern wurden, anders als 1990 vollmundig verkündet, nicht beerdigt? Präsident Stratmann versichert: Wenn alle Präparate gefunden sind, sollen sie "würdig nachbestattet" werden. Dann werde auch die Inschrift am Grab auf dem Waldfriedhof überarbeitet, die nur "an Opfer des Nationalsozialismus und ihren Missbrauch durch die Medizin" erinnert, ohne dass die MPG ihre Schuld einräumt. "Wir müssen uns zu unserer Verantwortung bekennen", verspricht Stratmann.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: