Mathematik des Schlangestehens:"Beim Warten sind wir wie Moleküle"

Der Mathematiker Thomas Hanschke kämpft gegen das Schlangestehen - an Kassen, vor Schaltern, in Fertigungsstraßen. Und zur Haupteinkaufszeit des Jahres spendet er Trost: mit verblüffenden Theorien für gestresste Kunden.

Philip Wolff

Ungefähr 20 Prozent seines Jahresumsatzes macht der deutsche Einzelhandel während der sieben Wochen vor Weihnachten. Für die Kunden bedeutet das: lange Parkplatzsuche in den Städten, Gedränge in den Fußgängerzonen - Stau an allen Nadelöhren des Verkehrs. Die wohl empfindlichsten Stellen sind die Kassen in den Läden. Wäre Stau dort vermeidbar? Thomas Hanschke von der Technischen Universität Clausthal beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Frage, wie sich Warteschlangen bezwingen lassen - allerdings nicht als Psychologe, sondern als Mathematiker: Er errechnet zum Beispiel, wie man Staus in Produktionsstraßen der Industrie verhindert oder Flugpläne optimiert. Er ist Experte für die Wissenschaft des Wenigerwartens. Dabei ist kaum Alltagserfahrung gefragt, aber viel Albert Einstein.

Mathematik des Schlangestehens: Das Warten durchdacht: Mathematiker Thomas Hanschke.

Das Warten durchdacht: Mathematiker Thomas Hanschke.

(Foto: Foto: oh)

SZ Wissen: Müssen Sie eigentlich selbst manchmal Schlange stehen oder kennen Sie mittlerweile alle Tricks?

Thomas Hanschke: Ich muss warten wie jeder andere auch, für mich persönlich hat sich daran nichts geändert. Das liegt an der Theorie: Die Statistik kann zwar Aussagen für die Allgemeinheit treffen, aber nicht über das Einzelschicksal. Wenn ich die Frage stelle: Wie wird die durchschnittliche Wartezeit unter diesen und jenen Umständen sein, dann komme ich zu einem recht zuverlässigen Ergebnis. Aber wenn es darum geht, eine individuelle Wartezeit vorherzusagen, ist das nicht möglich.

SZ Wissen: Aber Trost finden Sie vielleicht trotzdem. Mit welchem Wissen lässt sich denn der Ärger runterschlucken, wenn man in einer Schlange steht? Verkehrspsychologen sagen ja, Stau mache Menschen gegeneinander aggressiv, weil viele um dieselbe Sache konkurrieren.

Hanschke: Es sind nicht unbedingt andere Wartende schuld an meiner Situation. Die Theorie besagt: Die Länge der Wartezeit hängt allein von den Unregelmäßigkeiten im System und von dessen Auslastung ab. Je größer beides ist, desto länger muss gewartet werden. Der Idealfall wäre eine sogenannte getaktete Linie in einem Produktionsprozess: Wenn alle Teile im selben Takt ankommen, in dem sie auch bedient werden können, kommt es zu gar keiner Wartezeit. In dem Moment aber, in dem einer dieser Takte gestört wird, entsteht eine gewisse Unordnung und die führt dann zum Stau.

SZ Wissen: Unordnung bedeutet also: Leute legen unterschiedlich viele Waren aufs Kassenband?

Hanschke: Genau, oder ein Preis ist nicht ausgezeichnet oder Gemüse muss noch einmal nachgewogen werden. Unordnung könnte aber auch bedeuten, dass die Kunden in sehr unregelmäßigen Zeitabständen ankommen. Mal sind viele vor mir und mal nur ganz wenige, dafür haben die wenigen aber vielleicht viele Waren in ihren Körben.

SZ Wissen: Also sind es doch die anderen, die mich warten lassen.

Hanschke: Nein, es ist nicht unbedingt der menschliche Faktor, sondern es sind zunächst einmal die Auftragsvolumina. Je größer deren Variationsbreite, desto länger die Wartezeit.

SZ Wissen: Sollte ich mich also in eine Schlange stellen, in der die Leute ungefähr gleich viel im Einkaufswagen haben?

Hanschke: Das wäre eine Möglichkeit, die aber vor allem Geschäftsbetreiber nutzen könnten, indem sie ihre Kunden kategorisieren: in Kunden mit nur wenigen Teilen im Korb und solche mit halb vollem oder ganz vollem Korb. Man könnte sie an jeweils unterschiedliche Kassen führen.

SZ Wissen: So wie das an den Expressschaltern der Bahn AG gehandhabt wird, an die sich nur Kunden anstellen, die kein langes Beratungsgespräch brauchen?

Hanschke: Richtig. Die schnellen Kunden, die nur wenig Service brauchen, kommen an den einen, die anderen an andere Schalter. Eine solche Segmentierung hilft, Wartezeiten für die Allgemeinheit zu reduzieren.

"Beim Warten sind wir wie Moleküle“

SZ Wissen: Segmentiert wird ja auch auf Autobahnen: Gäbe es nur eine Spur, würde der Langsamste das Tempo bestimmen, und die Kapazität, in diesem Fall die Straße, wäre zu klein. Lässt sich das vergleichen?

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Hanschke: Zumindest sieht man daran: Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Wartezeit zu verkürzen. Entweder es wird segmentiert oder es wird zusätzliche Kapazität vorgehalten. Man könnte nämlich mithilfe eines Kundenzählsystems auch einfach nur die Zahl der geöffneten Kassen der jeweiligen Kundenmenge anpassen. Oft sind ja in den Geschäften bloß zu wenige Kassen besetzt.

SZ Wissen: Das klingt, mit Verlaub, etwas simpel.

Hanschke: Dahinter steckt aber eine komplizierte Wahrheit: Je größer ein System ist, desto besser kann es Unregelmäßigkeiten kompensieren. Ein Beispiel: Ich habe ein System mit einem einzigen Bediener, also einer einzigen Kasse, und eine Auslastung von 90 Prozent. Diese Konstellation kann ich jetzt mit einem System vergleichen, in dem parallel vier Bediener sitzen. Selbst wenn hier die Bearbeitungszeit pro Kunde dieselbe ist und die Auslastung wieder 90 Prozent beträgt, also viermal so viele Kunden ankommen, ist die Wartezeit im größeren System doch deutlich geringer, denn es kann Zufallsschwankungen besser ausgleichen. Die Unterschiede werden umso deutlicher, je mehr Kapazität vorhanden ist.

SZ Wissen: Zehn Leute gehen auf eine Kasse zu, ist also nicht dasselbe wie: 40 Menschen gehen in derselben Zeit auf vier Kassen zu?

Hanschke: Überhaupt nicht. 40 Leute in diesem Sinn auf vier Kassen verteilt, ist wesentlich günstiger. Das ist aber schwierig zu erklären. Es liegt daran, dass man als Kunde im größeren System einfach eine größere Chance hat, einen freien Bediener zu bekommen. Um das zu erläutern, ist Theorie notwendig, und die theoretische Grundlage dafür ist die Brownsche Molekularbewegung. Wenn Sie Blütenstaub auf eine Wasseroberfläche streuen, dann bewegt er sich hin und her. Und dieser Prozess, den der schottische Botaniker Robert Brown 1827 entdeckt und den Albert Einstein spä-ter physikalisch erklärt hat, lässt sich auch mathematisch beschreiben.

SZ Wissen: Und was hat diese Molekularbewegung mit Warteschlangen zu tun?

Hanschke: Der Warteschlangenprozess, der sich über die Zeit aufbaut, sieht ähnlich aus, wenn man ihn visualisiert: Da kommen Kunden an und gehen wieder weg, dann kommen wieder ein paar dazu. Im Zeitraffer würde man erkennen, dass die Warteschlange heftig pulsiert. Die Dynamik ist derjenigen der Brownschen Molekularbewegung sehr ähnlich, wenn das System hoch ausgelastet ist. Dank dieser Analogie ergeben sich aussagekräftige Formeln.

SZ Wissen: Aber Kunden sind doch keine Teilchen, sondern haben bewusste Motive.

Hanschke: Das denkt man so, aber für die mathematische Beschreibung reicht die formale Ähnlichkeit aus. Und das lässt sich auch an der Praxis überprüfen. Man sieht dann, dass die Formeln stimmen. Trotzdem ist es zuweilen schwierig, den Erkenntnisgewinn aus der Theorie im Nachhinein erklären zu wollen. Warum es in der Praxis so ist, dass im größeren System eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht, einen freien Bediener zu bekommen, lässt sich ohne moderne Wahrscheinlichkeitstheorie kaum plausibel machen.

SZ Wissen: Einstein und Brown begründen also auf schwer erklärliche Art die simple Alltagserkenntnis: Es müsste nur mehr offene Kassen geben?

Hanschke: Sozusagen, aber diese Erkenntnis bleibt auch nur wieder im Bereich der Theorie, denn welcher Geschäftsbetreiber sorgt schon dafür in der Praxis? Es werden doch immer mehr Servicestellen abgebaut. In industriellen Fertigungsstraßen dagegen, zum Beispiel in der Automobilindustrie, achten die Betreiber darauf, dass die Zahl der Aggregate und der zu bearbeitenden Teile harmonieren. Denn je mehr Teile, Türen, Fenster, Kotflügel und so weiter in der Produktion warten müssen, desto höher ist die Kapitalbindung, die einen Großteil der Produktions- und Lagerhaltungskosten ausmacht.

SZ Wissen: Und dem Einzelhändler geht nichts verloren, wenn seine Kunden an den Kassen lange warten müssen?

Hanschke: Im Einzelhandel ist es vor allem meine Zeit als Kunde, die mir weggenommen wird, und so gesehen auch mein Geld. Es entsteht also durchs Warten an der Kasse, zumindest indirekt, ein volkswirtschaftlicher Schaden.

"Beim Warten sind wir wie Moleküle“

SZ Wissen: Aber kein System lässt sich beliebig vergrößern. Es kann immer zu Überlastungen kommen, und die Situation ist wieder die alte: Der eine wartet lange, der andere kurz, und das Gerechtigkeitsempfinden meldet sich. Ist das eigentlich ein Gefühl, das man rational nennen kann, weil es auf einen objektiv für die Allgemeinheit besseren Zustand zielt?

Hanschke: Wenn dieses Gefühl dazu führt, dass man jemanden mit weniger Waren im Korb vorlässt, dann ja. Denn diese Strategie verkürzt die durchschnittliche Wartezeit für die Allgemeinheit, wie man aus dem Betrieb von Produktionsprozessen weiß. Allerdings verkürzt es natürlich nicht meine individuelle Wartezeit, wenn ich jemanden vorlasse. Ich selbst habe dann eher einen Nachteil. Aber aus Betreibersicht wäre dieses Verhalten zu begrüßen, denn als Betreiber möchte man ja erreichen, dass alle Kunden in der Summe möglichst wenig warten.

SZ Wissen: In den meisten amerikanischen Supermärkten sind die Wartezeiten kürzer, weil es wie an Flughäfen nur eine Schlange vor vielen Kassen gibt.

Hanschke: Diese Warteordnung ist neben der Segmentierung und dem Kapazitätsabgleich eine dritte Möglichkeit, um die durchschnittliche Wartezeit zu reduzieren. Hier greift wieder das größere System, das Unregelmäßigkeiten und Fluktuationen besser kompensieren kann als mehrere kleine, voneinander getrennte Systeme. Außerdem wird die Diskrepanz zwischen dem minimiert, der kurz wartet, und dem, der lang wartet. Die Wartegerechtigkeit ist bei dieser Bedienregel am größten: Wer zuerst kommt, ist zuerst dran. Sobald man die Reihenfolge der Kunden verändert, bekommt man wieder eine größere Varianz und stellt fest, dass das System ungünstiger wird.

SZ Wissen: Ein Beispiel, bitte.

Hanschke: Nehmen Sie an, Sie sitzen an einem Schreibtisch und es kommen Aktenvorgänge herein. Wenn Sie immer den obersten im Stapel zuerst nehmen, bleibt der zuerst eingetroffene Vorgang unten lang liegen. Der Erste wartet also extrem lang im Vergleich zum Letzten, die Varianz ist groß. In Abstufungen geschieht das auch, wenn man die Reihenfolge der Kunden beliebig wählt.

SZ Wissen: Aber wenn ich mich in irgendeiner Schlange anstelle, bin ich immer Opfer und Mitwirkender einer solchen Beliebigkeit. Diese Regeln zu befolgen, ist also Sache der Geschäftsbetreiber. Kann denn der Kunde auch etwas tun?

Hanschke: Der einzelne Kunde kann wenig Einfluss nehmen. Im Grunde gar nicht. Er wird sich natürlich immer der kürzesten Schlange anschließen, und in der Regel führt diese Strategie auch zum Erfolg. Aber - und hier kommen wir zu dem Gefühl: Warum stehe ich eigentlich immer in der falschen Schlange? Die Wahrscheinlichkeit, trotzdem länger warten zu müssen, ist vergleichsweise groß. Wenn ich mich mit der Erwartung in eine kurze Schlange stelle, damit ich schneller dran bin, nehme ich die Wartezeit natürlich anders wahr als in den hundert Fällen, in denen ich ohne große strategische Überlegungen per Zufall in der günstigsten Schlange gelandet bin. Am besten, man denkt als Kunde einfach nicht zu viel nach.

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