Loveparade: Experte zur Unglücksursache:"Die Treppe hätte man sprengen müssen"

Panikforscher Michael Schreckenberg hat die Loveparade mit vorbereitet und vor Gefahren gewarnt. Er sagt: Das Unglück ist passiert, weil sich einige Besucher nicht an die Spielregeln hielten.

Claudia Fromme

Michael Schreckenberg, 53, ist Physiker an der Universität Duisburg-Essen und erforscht neben Staus die Massenpanik. Bei der Loveparade hat er daran mitgearbeitet, wie die Menschen zum Gelände kommen.

grafik loveparade

Die Grafik zeigt das Festivalgelände, auf dem sich die Tragödie ereignet hat (zum Vergößern auf das Bild klicken).

(Foto: SZ-Grafik)

SZ: Ist es nicht absoluter Irrsinn, solche Massen über ein Nadelöhr auf das Gelände der Loveparade zu schleusen?

Michael Schreckenberg: Es wird viel mit falschen Zahlen operiert, angeblich hätten sich 1,4 Millionen Menschen auf dem Gelände aufgehalten, das nur 250.000 fasst. Dort war nie ein annähernder Füllungsgrad erreicht. Zum Zeitpunkt des Unglücks waren nicht einmal 200.000 Leute auf dem Gelände. Auch war der Tunnel eigentlich breit genug für die Massen.

SZ: Wie konnte es dennoch zu der Massenpanik kommen?

Schreckenberg: Der Begriff Massenpanik ist falsch. Das Unglück ist nicht passiert, weil es zuvor im Tunnel zu eng und die Masse panisch war, sondern weil einige hinter dem Tunnel versucht haben, schneller auf das Gelände zu gelangen. Sie sind auf eine ungesicherte Treppe gestiegen und in die Menge gestürzt. So hat sich die Masse weiter verdichtet. Die Katastrophe ist nicht durch Panik entstanden, sondern als Folge einer physikalischen Zwangsläufigkeit. Eine hochverdichtete Masse gerät in Bewegung. Wenn die Leute nicht heruntergestürzt wären, wäre meiner Einschätzung nach nichts passiert. Auslöser war, dass sich einige nicht an die Spielregeln gehalten haben.

SZ: Das ist zynisch. Ein Sicherheitskonzept muss irrationales Verhalten einkalkulieren. Wäre es im Tunnel nicht voll gewesen, wäre es kein Problem gewesen, wenn sich manche eigene Wege suchen.

Schreckenberg: Ich bin nicht für die Sicherheit auf dem Gelände verantwortlich. Ich habe nur am Konzept mitgewirkt, wie die Massen durch die Stadt, vom Bahnhof zum Tunnel geführt werden. Dennoch habe ich auf Schwachstellen auf dem Gelände hingewiesen. Wir haben auch Simulationen gemacht, wie man das Gelände evakuiert. Ich hatte gewarnt, dass man sich den Tunnel genau ansehen muss, dass Kleinigkeiten wichtig sind. Dass man ihn sofort sperren und räumen können muss, wenn er zu voll wird. Wir haben gewarnt, aber vielleicht hätten wir stärker warnen müssen. Die Veranstalter wollten nicht mit mir zusammenarbeiten, sie hatten eigene Gutachter.

Die Menschen sind risikobereiter

SZ: Folgt die Loveparade anderen Gesetzen als andere Großveranstaltungen?

Loveparade: Experte zur Unglücksursache: Das Bild zeigt Loveparade-Besucher, die am Samstag verzweifelt versucht hatten, das Gelände zu verlassen. Nach Einschätzung des Panikforschers Michael Schreckenberg  war nicht die Massenpanik Ursache des Unglücks mit mindestens 19 Toten, sondern, dass zuvor einige auf eine ungesicherte Treppe gestiegen und in die Menge gestürzt waren.

Das Bild zeigt Loveparade-Besucher, die am Samstag verzweifelt versucht hatten, das Gelände zu verlassen. Nach Einschätzung des Panikforschers Michael Schreckenberg  war nicht die Massenpanik Ursache des Unglücks mit mindestens 19 Toten, sondern, dass zuvor einige auf eine ungesicherte Treppe gestiegen und in die Menge gestürzt waren.

(Foto: AP)

Schreckenberg: Es ist etwas anderes als ein Weltjugendtag. Die Menschen bei der Loveparade sind mobiler, risikobereiter. Sie haben einen stärkeren Drang, zum Ziel zu kommen. Dass sie sich darauf gefreut haben, unter freiem Himmel zu feiern und plötzlich in einem Tunnel stecken, kann dazu beitragen, dass sie schwerer zurückzuhalten sind. Das muss man wissen, wenn man so etwas veranstaltet. Auch muss man die Masse beobachten. Im Tunnel gab es offenbar Kameras, die gefilmt haben. Sie wurden im Laufe des Tages zerstört. Da hätte man schon reagieren und den Tunnel sperren müssen.

SZ: Das Gelände war rundum mit Zäunen abgesperrt. Birgt das nicht Gefahr?

Schreckenberg: Ich habe schon im Vorfeld geprüft, dass genügend Notausgänge zur Verfügung stehen und Zäune nicht aufgebaut werden, die ein festes Hindernis sind. Man muss sich wirklich fragen, warum die Treppe nicht besser gesichert war. Da reicht der Zaun nicht aus, der davor war. Die Treppe hätte man vorher sprengen müssen. Es sind oft kleine Sachen, die Katastrophen auslösen. Das kann auch eine gefühlte Gefahr sein. Beim Königinnentag in Amsterdam vor kurzem hat der Ruf "Da ist eine Bombe" ausgelöst, dass die Masse sich in Bewegung gesetzt hat und Menschen verletzt wurden. Dabei gab es gar keine Bombe.

SZ: Kann man Menschen in so einer Situation lenken oder sind sie dann blind?

Schreckenberg: Es ist wichtig, Eingeschlossenen Perspektiven zu zeigen, sie durch Durchsagen zu informieren, sie zu beruhigen. Das war auch ein Hinweis vorher von mir, dass man intensiv informiert. Dass die Leute wissen, jetzt geht's nicht voran, dass sie nicht drücken von hinten. Man hätte Durchsagen machen können, dass die Leute auch über die Notausgänge auf das Gelände kommen können, um den Druck von dem Tunnel zu nehmen. Das ist wohl nicht geschehen.

SZ: Die Musik wurde Stunden weitergespielt. Viele empfanden tanzende Raver angesichts der Katastrophe verstörend. War das die richtige Entscheidung?

Schreckenberg: Es war die einzige Möglichkeit. Wenn man die Loveparade plötzlich beendet hätte, wäre die gesamte Menge der Menschen, die auf dem Gelände waren, auf einmal losgezogen. Das war etwas, das man auf jeden Fall verhindern wollte. Immerhin das hat funktioniert.

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