Lokführer und Suizide:Die Opfer der Lebensmüden

Wirft sich ein Lebensmüder vor einen Zug, gibt es außer ihm immer noch ein weiteres Opfer: den Lokführer. Jeder von ihnen überfährt im Laufe des Berufslebens im Schnitt zwei Menschen. Welch quälende Folgen die Suizide für sie haben, wird unterschätzt.

Christian Weber

Am 10. November 2009 startete der Fußballtorwart Robert Enke eine verhängnisvolle Kettenreaktion. Deren Umfang haben Fachleute jetzt ausgewertet: Der Schienensuizid des berühmten Sportlers führte zu noch mehr Nachahmungstaten als erwartet, berichtet ein Forscherteam um den Epidemiologen Karl-Heinz Ladwig vom Helmholtz-Zentrum in München in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Journal of Affective Disorders (Bd. 136, S.194, 2012).

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Nach dem Suizid eines 17-jährigen Schülers, der sich in Köln-Weiden absichtlich vor eine Straßenbahn gestürzt hatte. Zugführer , die einen Menschen überfahren haben, leiden danach häufig unter chronischen, posttraumatischen Störungen, die bis zur Berufsunfähigkeit führen können.

(Foto: dpa)

In den vier Wochen nach dem Ereignis warfen sich mehr als doppelt so viele Menschen in Deutschland vor einen Zug wie im gleichen Zeitraum zuvor: 121 statt 53. Allein in diesem kurzen Zeitraum starben also 68 Menschen mehr, als im Durchschnitt zu erwarten war, vermutlich angestiftet von dem Sportidol.

Und es gab noch weitere Opfer. Jene Lokführer nämlich, die unfreiwillig einen Menschen überfahren mussten und danach häufig unter chronischen, posttraumatischen Störungen leiden, die bis zur Berufsunfähigkeit führen können. Das ist der Grund, wieso man Robert Enke auch einen Täter nennen könnte.

Trotz mancher Reportage über dramatische Einzelschicksale wird das Leid der Lokführer immer noch unterschätzt, nicht zuletzt deshalb, weil die Deutsche Bahn nur spärlich über das Thema informiert - wofür es Gründe gibt: eben weil Psychiater es für erwiesen halten, dass insbesondere eine einfühlsame und detaillierte Darstellung von Suiziden zu weiteren anstiftet.

Stillschweigend haben sich die meisten Medien deshalb verpflichtet, über die sogenannten Schienensuizide in aller Regel nicht zu berichten. Und wenn die U-Bahn verspätet ist, melden die Lautsprecher nur noch eine "Betriebsstörung" oder einen "Notarzteinsatz". Diese Rücksicht hat aber zugleich zur Folge, dass zu wenig über die Lokführer gesprochen wird.

Lebenslanges Leiden

Es geht hier nämlich nicht um Einzelfälle, sondern um ein Problem, mit dem fast jeder Lokführer ein- oder mehrmals in seinem Leben zu kämpfen hat. Im Durchschnitt überfährt jeder von ihnen während seiner Laufbahn zwei Mal einen Menschen. Und entgegen dem stark fallenden Trend der allgemeinen Suizidrate seit den 1980er Jahren werden die Schienensuizide nicht weniger. Ihre Zahl schwankt seit Jahrzehnten zwischen 700 und 1000 pro Jahr.

"Die Lokführer sind die wirklichen Opfer dieses Problems", sagt Epidemiologe Ladwig. "Bei ihnen heilt die Zeit keine Wunden - sie sind häufig für ihr Leben geschädigt."

Wie sehr das der Fall ist, zeigte eine vor kurzem am Lehrstuhl von Ladwig entstandene Dissertation. Die Medizinerin Martina Maria Käufl hatte darin psychische Langzeitfolgen bei 45 U-BahnZugführern untersucht, die im Münchner Schienennetz mindestens einen traumatisierenden Personenunfall erlebt hatten. Ein Studienteilnehmer hatte sogar zehn Menschen überfahren. Dabei ergab sich, dass 19 Zugführer, also gut 42 Prozent, an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litten, und das, obwohl das Ereignis bei der Mehrzahl von ihnen mehrere Jahre zurücklag und viele von ihnen in psychotherapeutischer Behandlung waren.

Sie leiden unter Albträumen, Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schreckhaftigkeit, Schlaflosigkeit. Sie vermeiden Situationen und Umstände, die an das traumatische Ereignis erinnern. Und sie werden immer wieder von Erinnerungen an das Trauma - von Flashbacks - gequält.

Treffend beschreibt ein PTBS-Opfer in einem Selbsthilfe-Forum, wie sich das anfühlt: "Träume ich, sehe ich das Gesicht, ich sehe IHN, wie er auf dem Gleis steht, die Arme ausgebreitet und lacht. Er lachte mich an. Aber ich sehe nicht nur ihn, ich sehe auch ähnliche Situationen an anderen Stellen, mit anderen Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Dann wache ich auf, nass geschwitzt. Zitternd, mit einem Gefühl aus Angst, Panik und Hilflosigkeit."

Dabei scheinen Lokführer anfälliger für PTBS zu sein als Menschen, die andere traumatische Situationen erlebt haben. Bei einer von Käufl zur Kontrolle parallel untersuchten, ähnlich großen Gruppe von Münchner Bankangestellten, die einen bewaffneten Raubüberfall erlebt hatten, war die PTBS-Quote nur knapp halb so groß, obwohl es auch bei ihnen zu dramatischen Szenen bis hin zu Todesfällen gekommen war.

Gezwungen, einen Menschen zu überfahren

Die Angst um das eigene Leben traumatisiert offenbar weniger als das lähmende Entsetzen, das einen Lokführer packt, der gezwungen wird, einen Menschen zu überfahren. Denn das ist klar: Die Bremswege von U-Bahnen, erst recht die von Schnellzügen, erlauben so gut wie nie den rechtzeitigen Stopp. Ein ICE mit Höchstgeschwindigkeit hat einen Bremsweg von mehr als drei Kilometern.

Immerhin sind die Zeiten vorbei, als es unter Lokführern als männlich galt, nach einem Bahnunfall möglichst unbeeindruckt den Dienst fortzusetzen. Heute hat sich die Lage gebessert, zumindest auf dem Papier. Alle Lokführer werden nach einem traumatischen Ereignis erst mal freigestellt, Obmänner sollen sich vor Ort um die Betroffenen kümmern, bei anhaltenden Störungen gibt es sogar eine mit der Deutschen Bahn kooperierende spezialisierte Klinik in Bad Malente.

Kann ein Lokführer dennoch seinen Dienst nicht weiter leisten, wird er in aller Regel anderswo in dem Unternehmen untergebracht, wobei er allerdings wesentliche Teile seines Gehalts verliert: die Zulagen, die er normalerweise für den Schichtdienst bekommt. Immerhin, selbst Gerda Seibert, Sprecherin der Gewerkschaft der Lokführer, sagt: "Die Betreuung hat sich in den letzten Jahren verbessert; die Nachsorge ist ganz gut."

Zumindest offen will niemand mehr die Bahn anklagen, doch unter der Hand gibt es Beschwerden. "Eine besondere, zusätzliche Belastung für die Lokführer sind die nachfolgenden Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft beziehungsweise der Polizei", berichtet Hans Förstl, Direktor der Psychiatrischen Klinik der TU München. Hier tut sich ein Dilemma auf. Natürlich ist die Polizei verpflichtet, nach einem tödlichen Unfall exakt zu ermitteln und alle Beteiligten detailliert zu befragen. Doch genau das kann verheerend wirken.

"Kriminalpolizeiliche und staatsanwaltliche Ermittler sind häufig nicht wirklich feinfühlig", sagt Ladwig. "Wenn die betroffenen Lokführer zu früh und unfreiwillig an das Trauma herangeführt werden, kann das zu einer repetitiven Traumatisierung führen." So habe er eine Gerichtsverhandlung erlebt, bei der ein als Zeuge geladener Zugführer - "ein gestandenes Mannsbild" - völlig zusammengebrochen sei.

Verdrängung nicht möglich

Traumatherapeuten verwundert das nicht. Sie wissen seit Jahren, dass das früher nach Krisensituationen so beliebte sogenannte Debriefing den meisten traumatisierten Menschen eher schadet. "Es führt häufig zu einer sekundären Traumatisierung", sagt Förstl, wenn Menschen nach Katastrophen gezwungen werden, alles Erlebte noch mal durchzugehen in der Hoffnung, es damit besser zu bewältigen. "Mit dem Mechanismus der Verdrängung kommen hingegen viele Menschen erstaunlich gut zurecht", sagt Förstl. Gut, dass wir nicht darüber geredet haben.

Insofern ist es eher kontraproduktiv, wenn nach mehr Psychologen an den Bahngleisen gerufen werde. "Die Leute brauchen Hilfe und Fürsorge, aber erst mal auf einem niedrigen Niveau", bestätigt Ladwig. Am besten kümmerten sich Kollegen, die dem Betroffenen eine Decke umlegen, einen Kaffee geben und sich zu ihm setzen. Die Profis können später therapieren.

Ob sich dann nach dem Schienen-GAU bei den Lokführern tatsächlich eine PTBS entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. So sind Menschen unterschiedlich anfällig für die Erkrankung; womöglich ist das bereits in der Hirnstruktur angelegt. Andere Risikofaktoren hat Martina Maria Käufl bei den Münchner U-BahnFahrern nochmals herausgestellt. So verdoppelt sich das Erkrankungsrisiko, wenn die Lokführer bestimmte Gerüche oder Geräusche mit dem Vorfall in Erinnerung bringen, wenn sie das Opfer haben schreien hören oder sein Gesicht gesehen haben.

Der größte Risikofaktor aber ist derjenige, der sich am ehesten abstellen ließ: Wenn Passanten den Lokführer beschimpfen und Vorwürfe machen, erhöht sich das PTBS-Risiko um den Faktor 3,2.

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