Linné und seine Heimat:Der neue Adam und das Elend der Feldsteine

Wer aus Råshult kommt, hat Sparsamkeit gelernt: Ein Spaziergang zum dreihundertsten Geburtstag Carl von Linnés.

Lothar Müller

In seinen autobiographischen Schriften spricht der Naturforscher Carl von Linné von sich selbst in der dritten Person. Auf das Kind, das er war, blickt er mit Wohlgefallen zurück. Aber es ist kein interesseloses Wohlgefallen.

Er hat, wenn er von seiner Kindheit berichtet, ein Ziel: dem Leser zu demonstrieren, dass hier ein großer Naturforscher heranwuchs. Es scheint als sei er aus der südschwedischen Landschaft herausgewachsen wie die Blätter und die Blüten, die dem Licht entgegensprossen, als er am 23. Mai 1707 in Råshult, im Pfarrbezirk Stenbrohult in Småland, geboren wurde.

Es war der schönste Frühling, und der Kuckuck kündigte den Sommer an. Zum Haus des Vaters, des protestantischen Pfarrers, gehörte der Garten, den er wie die Äcker und Wiesen sorgsam bestellte.

Carl von Linné war noch keine zwei Jahre alt, als die Familie ins nahe Stenbrohult umzog, wo der Vater die Pfarre seines gestorbenen Schwiegervaters übernahm. Es blieb dieselbe småländische Welt der selbständigen Kleinbauern, die ihre überschaubaren Höfe bestellten. Wer heute zum Geburtsort Linnés, nach Råshult fährt, der gelangt an eine Gedenkstätte besonderer Art. Hier begnügt sich der Geist des Historismus und des Museums nicht damit, die Kirche und das Geburtshaus zu bewahren.

Er ist zugleich in die Landschaft gefahren, in die Beete des Gartens, in die Wiesen und Äcker, in die Zäune und Hecken. Der konservierende Geist hat all dies zurückgebaut, hat die Parzellierungen des 19. Jahrhunderts und die Flurbereinigungen, die im späten 18. Jahrhundert begannen, aufgehoben. Die Nutzflächen sind den Maßen angeglichen, die sie zu Lebzeiten Linnés hatten, es wird wieder von Hand gesät, mit der Sense geerntet und das Heu auf dem Boden getrocknet.

Wer darin nur das modische Bündnis von Nostalgie und Agrartourismus sieht, betrügt sich um die Chance, die ihm hier gegeben wird: eine Anschauung von der Herkunftswelt Linnés zu finden, die unabhängig ist von dem, was er selber über sie erzählt. Zu dieser Erzählung gehört, wie der Geist des Naturforschers schon in dem Knaben erwachte, dessen einziges Vergnügen es war, im Garten des Vaters unter den Blumen umherzugehen und die Pflanzen kennenzulernen, was nicht zuletzt hieß: die Namen aller dieser Pflanzen kennenzulernen.

Kein Paradies

Von einer so paradiesischen Idylle ist dieser Knabe umgeben, dass er in seiner Lust am Benennen einem zweiten Adam zu gleichen scheint. Und in der Tat begegnet man diesem zweiten Adam nicht selten in der Mythologie, von der Carl von Linné wie jeder große Gelehrte umgeben ist.

Wer aber nur ein wenig durch den Garten und die Wiesen in Råshult streift, der sieht spätestens beim zweiten Blick: dies hier ist, auch wenn sie in Blüte steht, eine karge, durchaus nicht paradiesische- gänzlich post-adamitische Welt. Einen freien Horizont gibt es hier nicht, die vielen Steinmäuerchen sind stumme Zeugen der Mühen, unter denen in dieser engen Welt die kleinen Äcker bestellt werden mussten.

Leibeigene waren es nicht, die diesen Boden voller Steine bestellten, aber die Freiheit der Kleinbauern war Freiheit zur Mangelwirtschaft. Es gab fünfmal mehr Wiesen als Ackerland, und wer mit heutigen Augen diese Äcker betrachtet, der wundert sich über die Abstände zwischen den einzelnen Getreidehalmen und die Vielfalt dessen, was zwischen ihnen wächst, und ahnt da bescheidene Verhältnis von Fläche und Ertrag. Und er wundert sich nicht, wenn in der Broschüre des Museums hervorgehoben wird, dass die Bewohner dieser Auswanderer-Landschaft seit je als überaus sparsam und so eigenwillig galten, dass sie gelegentlich die Kriegskasse der durchziehenden schwedischen Armee raubten.

Von dieser Sparsamkeit, vom Roden und Einhegen führen gangbarere Wege ins Werk des Naturforschers als aus der Kindheitsidylle. Mit der Erstbenennung der Schöpfung hatte Carl von Linné wenig zu schaffen. Er war der Reformator einer bereits existierenden Namenswelt, die er rodete wie nur je ein Ackerbauer die widerspenstige Natur.

Sein Genie war das eines Ökonomen der Terminologie und Taxonomie. Seine berühmte binominale Nomenklatur war aus dem Geist der Sparsamkeit geboren, war Reduktion des überlieferten Wildwuchses der Namen, ökonomische Bewirtschaftung von Worten.

Und wenn er an die Natur vor allem die Frage stellte, wie sie sich fortzeugte, und die Fortpflanzungsorgane ins Zentrum seines Klassifikationssystems rückte, so passt auch dies zur Welt von Råshult, in der, anders als in einer Idylle, die Selbsterhaltung nicht selbstverständlich war.

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