Linguistik:Das Schweigen der Wüste

In einem Dorf in Israel werden viele taube Kinder geboren. Irgendwann erfinden sie ihre eigenen Gebärden, um sich zu verständigen. Eine Chance, den Ursprung von Sprache zu erforschen.

Von Kai Kupferschmidt

Salha Sarsour kann den Muezzin nicht hören. Wenn die Gläubigen von Kfar Qasim im Morgengrauen zum Gebet gerufen werden, schaltet ein Nachbar das Licht ein. Dann steht die alte Frau auf und sinkt auf die Knie. Niemand weiß, was dann in ihr vorgeht. Niemand hat ihr je ein Gebet beibringen können.

Salha Sarsour wurde taub geboren. Sie kann nicht hören und nicht sprechen. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. In ihrem Leben gibt es keinen Koran und keine Predigt, kein Radio und kein Fernsehen, keine Briefe, keine E-Mails, kein Telefon. Sie lebt in ihrem kleinen Zimmer im Seitenflügel eines alten Steinhauses und sie fastet und sie betet. Meist ist sie allein.

Alle zwei Wochen trifft sich Sarsour dennoch mit Freundinnen zum Kaffeeklatsch. Auf kleinen Plastikstühlen sitzen die Frauen im Innenhof vor Sarsours Zimmer und gestikulieren wild. Ihre Hände zeichnen dann all das in die Luft, was die Frauen nicht sagen können.

Und was außer ihnen kaum jemand versteht.

Die Gebärdensprache, die sie nutzen, gibt es nur an diesem Ort. Kfar Qasim liegt im Westen Israels, an der Grenze zum Westjordanland. Es ist eine Sprachinsel, entstanden durch einen Gendefekt. Es hat hier immer viele Ehen unter Verwandten gegeben. Und es gibt viele taube Menschen.

Sie haben sich selbst geholfen - und ihre eigene Sprache entwickelt. "Dorfgebärdensprache" sagen die Linguisten. Sie zeigt, wie tief der Drang des Menschen ist, zu kommunizieren: Wo keine Sprache ist, erfindet er eine. Wo viele gehörlose Menschen zur Welt kommen, wird eine Gebärdensprache geboren. Sarsour und die anderen Frauen besitzen nicht viel. Die Sprache ist das kostbarste, was sie haben.

Sarsour hat nie geheiratet. Sie trägt ein weißes Kopftuch und ein langes Kleid mit hellblauen und rosafarbenen Blüten. Sie hat ihr Leben lang als Schneiderin gearbeitet. Hochzeitskleider genäht. Sarsour hat keine Kinder, aber sie ist eine der Mütter dieser unwahrscheinlichen Sprache. Und sie ist stolz darauf. "Das hier ist toll", erklärt sie in ihrer Zeichensprache. Und meint den Kreis aus gestikulierenden Frauen. In ihrer Kindheit sei sie sehr einsam gewesen. "Es gab niemanden, mit dem ich reden konnte. Keine Schule. Nichts. Nichts."

Kfar Qasim ist nicht der einzige Ort, an dem sich taube Menschen aus diesem Nichts befreit und eine neue Sprache entwickelt haben. Inzwischen kennen Linguisten Dorfgebärdensprachen aus Indien, Kenia, der Türkei und Thailand. Sie sammeln die Sprachen wie Schmetterlingsforscher. Jeder Fund schillert in seinen eigenen bunten Farben. Doch sie arbeiten unter Zeitdruck. Wie manch Falter im Amazonas ausstirbt, ehe er entdeckt wird, so sterben auch viele Dorfgebärdensprachen, bevor sie erforscht sind. Für die Wissenschaft ist das ein Verlust, denn - so glauben manche Forscher - Sprachen wie die in Kfar Qasim könnten der Schlüssel sein, um eine uralte Frage zu beantworten: Wie ist Sprache überhaupt entstanden?

Am Anfang war das Schaf. So erzählt es zumindest der Philosoph Johann Gottfried Herder. 1769 lobte die königlich-preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin eine Preisfrage aus: "Sind Menschen, ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen, imstande, Sprache zu erfinden und wenn ja, mit welchen Mitteln sind sie dazu gekommen?" Herders preisgekrönte Antwort ist ein Szenario: Der Ur-Mensch steht einem Schaf gegenüber, "weiß, sanft, wollicht". Er sucht ein Merkmal, um das Schaf zu beschreiben: "Ha! Du bist das Blökende", denkt er - und ahmt das Blöken nach. Damit hat der Ur-Mensch laut Herder das erste Wort erdacht: "Seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte - die Sprache ist erfunden!"

Man nenne das auch die Bow-Wow-Theorie, sagt Wendy Sandler, Linguistin an der Universität von Haifa. Es gebe viele Theorien zum Ursprung der Sprache, sagt sie. Während Herder in der Imitation von Tierlauten den Ursprung sah, haben andere Forscher vorgeschlagen, die Sprache sei aus Rufen wie "Oh" oder "Aua" entstanden, aus dem Singsang von Müttern, die ihre Kinder beruhigten oder aus Gesten. All diese Theorien haben eines gemeinsam, sagt Sandler: Sie sind pure Spekulation.

Sandlers Spezialgebiet sind Gebärdensprachen. Sie hat als erste die Sprache in Kfar Qasim beschrieben. Und sie erforscht seit vielen Jahren eine weitere Dorfgebärdensprache in Al-Sayyid, einem Ort im Norden der Negev-Wüste. Sandler glaubt, dass gerade Sprachen wie diese der Schlüssel zum Rätsel der Sprachentstehung sind. Denn gesprochene Sprachen sind Tausende Jahre alt und aus anderen Sprachen hervorgegangen. Aber die Gebärdensprache in Al-Sayyid ist weniger als 100 Jahre alt. "Wenn man eine neue Sprache so früh erwischt wie diese, dann ist sie gewissermaßen noch ganz rein", sagt Sandler. Das Mindeste, was man daraus lernen könne, sei, welche Zutaten am Anfang einer Sprache notwendig seien. "Das ist dann wenigstens eine Basis für Spekulationen über den Ursprung der Sprache", sagt Sandler.

Andere Linguisten zweifeln daran. Die Isolation der Sprachen werde manchmal übertrieben, sagt Ulrike Zeschan, die an der Universität Bristol Gebärdensprachen erforscht. "Diese Sprachen werden ja auch von den hörenden Menschen beeinflusst", sagt sie. "Es ist spannend zu sehen, wie diese Gebärdensprachen sich weiterentwickeln, aber es ist etwas gewagt, bis zum Ursprung der Sprache an sich zu gehen."

In Al-Sayyid könnte "Schaf" aber tatsächlich eines der ersten Worte gewesen sein. Das Wort für Schaf ist eine wackelnde Hand, die drei mittleren Finger gekrümmt, Daumen und kleiner Finger ausgestreckt. "Das ist der Schwanz des Schafes der vor einem hin und her wackelt"", erklärt Saleh Al-Sayyid, der den Ortsnamen als Nachnamen trägt, so wie alle im Dorf.

Saleh leitet eine Schule. Sie liegt auf einem kleinen Hügel und man kann von hier den ganzen Ort überblicken. Was einst eine Sammlung von Zelten war, ist heute eine dicht gedrängte Anhäufung ein- und zweistöckiger Häuser, sandiger Straßen und einiger weniger Bäume. Die Stadt wurde von der israelischen Regierung erst vor zehn Jahren offiziell anerkannt. Einige Teile des Dorfes sind bis heute nicht an die Strom- oder die Wasserversorgung angeschlossen. Mehr als 4000 Menschen leben hier. Sandler schätzt, dass etwa 150 von ihnen taub sind. Saleh kann hören, aber wie die meisten Menschen in Al-Sayyid beherrscht er trotzdem die Gebärdensprache. Und er kennt die Geschichte des Stammes sehr gut. Sein Vater spielt darin eine wichtige Rolle.

Das Schweigen der Wüste

Salha Sasour kann nicht hören, hat weder lesen noch schreiben gelernt. Sie lebt allein in einem kleinen Zimmer, sie fastet und betet viel.

(Foto: Daniel van Moll/laif)

Mitte des 19. Jahrhunderts sei ein Mann aus Ägypten ausgewandert in die Negev-Wüste, erzählt Saleh. "Ich habe Geschichten gehört, dass er Streit hatte mit seinen Brüdern. Darum hat er Ägypten verlassen und ist nach Palästina gegangen." Ohne es zu wissen, trug der Mann auch eine Mutation in sich, die zu angeborener Taubheit führt, wenn beide Eltern sie an ein Kind weitergeben. Der Mann hatte mehrere Söhne. Sie heirateten Frauen aus der Umgebung. Die Enkel des Mannes heirateten untereinander. Bei einigen ihrer Kinder, geboren in den 20er- und 30er-Jahren lag der Fehler im Erbgut des Beduinen nun doppelt vor. Sie wurden taub geboren. "Die erste Generation", nennen sie die Forscher. Eines dieser Kinder war Salehs Vater. "Meine Großeltern wollten mit meinem Vater sprechen, aber sie hatten keine Sprache dafür", sagt Saleh. Kinder und Eltern hätten angefangen, Gesten und Gebärden zu erfinden. "So haben sie die Sprache begonnen."

Sandler hat in Al-Sayyid die Gebärden von einigen jungen und alten Menschen untersucht und verglichen. Schon in der zweiten Generation, benutzten die Menschen nicht mehr nur die Hände. "Da kommen Bewegungen des Kopfes hinzu. Die zeigen zum Beispiel an, wenn mehrere Wörter zusammen gehören", sagt sie. In der dritten Generation spielt dann auch der Gesichtsausdruck eine Rolle. Wie der Tonfall bei gesprochener Sprache zeigt er an, ob etwas als Aussage oder als Frage gemeint ist oder verbindet Haupt- und Nebensätze. Und in der jüngsten Generation wechselt der ganze Oberkörper seine Position, um zum Beispiel verschiedene Charaktere in einer Erzählung zu unterscheiden. "Nach und nach wird der ganze Körper in die Sprache eingebunden", sagt Sandler. Sie nennt es "die Grammatik des Körpers".

Noch etwas anderes haben die Forscher in Al-Sayyid entdeckt: Die Gebärden, die als ganzheitliche Symbole begonnen haben, zerbrechen langsam in bedeutungslose Einheiten, so wie Wörter aus bedeutungslosen Geräuschen bestehen. Das Zeichen für Ei zum Beispiel besteht in Al-Sayyid aus zwei Teilen: ein pickender Zeigefinger, die Handfläche nach unten (das Huhn), dann dreht sich die Handfläche nach oben und Daumen, Zeige- und Mittelfinger halten ein imaginäres Ei. In einer Familie hat sich das Zeichen aber verändert, abgeschliffen. Statt des pickenden Huhns beginnt die Geste dort bereits mit den drei Fingern, die das Ei halten, nur auf dem Kopf. Obwohl der Schnabel eines Huhns nicht dreizackig ist. Die ganzheitlichen Zeichen würden so in sinnlose Einheiten zerlegt, "ein Finger", oder "drei Finger", so wie das Wort "Huhn" im Deutschen aus drei sinnlosen Lauten besteht: H - U - N.

Sandler sieht darin die nächste Stufe der Entwicklung. "Die Sprache kristallisiert", sagt sie. Das Zeichen löst sich gewissermaßen von dem, was es repräsentiert, und seine Einzelteile können benutzt werden um mehr und andere Wörter zu formen. "Was die ungeheure Vielfalt der Sprache ausmacht, ist die Möglichkeit sinnlose Teile, Laute, zu kombinieren", sagt Sandler. So wie die Laute in Huhn (H - U - N) in Kombination mit anderen Lauten Holz, U-Bahn oder Neonröhre ergeben können.

"Mit dieser Entwicklung hatte ich nicht gerechnet", sagt Sandler. "Die meisten Forscher glauben, dass Wörter und diese sinnlosen Einheiten gleichzeitig auftauchen." Das Überraschendste für sie sei aber gewesen, dass am Anfang der Sprache weder diese Einheiten noch Grammatik vorhanden gewesen sei, sagt Sandler.

Es gibt nur ein Video von Salehs Vater. Es ist unscharf und überbelichtet, aber für die Forscher hat es enormen Wert. Es ist die einzige Aufnahme der "ersten Generation", die existiert. In dem Video sitzt Salehs Vater mit Anzug und Kopftuch auf dem Boden und erzählt die Geschichte einer Stammesfehde, die sich lange vor seiner Zeit zugetragen hat.

Seine Bewegungen sind ausladend. Fliehen. Rennen. Rennen. Dann fallen seine Hände wieder in seinen Schoß. Schwert. Gewehr. Schlagen. Gewehr blocken. Treffen. Schießen. Schießen. Pferd. Fallen. Auge fällt raus. Tuch schwenken. "Da sind nur diese Worte", sagt Sandler. "Es gibt so gut wie keine Struktur. Und trotzdem schafft er es, diese ganze komplizierte Geschichte zu erzählen."

Was genau am Anfang der Sprache stand, sei alles andere als offensichtlich. Manche Forscher glauben, es seien Silben ohne Bedeutung gewesen, die dann langsam Bedeutung bekommen haben. Andere behaupten, dass die Fähigkeit, Sätze in andere Sätzen einzubetten, entscheidend gewesen sei. Doch das Video von Salehs Vater zeige, dass es nicht mehr benötige als einfache Worte und Pausen, sagt Sandler. "Am Anfang war tatsächlich das Wort."

Und auch das Ende ist schon absehbar. Salha Sarsour gehört zu den ersten Menschen, die die Dorfgebärdensprache benutzt haben. Aber wenn ihre Hände sich bewegen, dann sieht das für die jüngeren Menschen seltsam aus. "Ihre Hände sind schwer", sagen sie. Sie haben Mühe, Sarsour zu verstehen. Die Dorfsprachen wandeln sich - und sie verschwinden.

Wenn sich die älteren Frauen in Kfar Qasim zum Kaffeeklatsch treffen, dann ist häufig Meyad Sarsour dabei. Auch Meyad ist taub, aber sie ist erst 30 Jahre alt, viel jünger als die anderen. "Salhas Sprache ist sehr simpel. Es gibt keine Grammatik und keine komplizierten Sätze", sagt sie.

Tatsächlich tanzen Meyads Hände schneller und eleganter, wenn sie sich unterhält. In der israelischen Gebärdensprache sei es einfacher, über Gefühle zu sprechen oder komplexe Sätze zu bilden, sagt sie. Außerdem könne sie sich damit mit mehr Menschen verständigen. "Aber ich mag es, auch die Zeichensprache hier zu lernen, weil es viele besondere Zeichen gibt", sagt sie. So gebe es viele Zeichen für verschiedene Lebensmittel. "Heute gibt es das nicht mehr. Wir buchstabieren das."

Meyad gehört zur letzten Generation, die noch die lokale Dorfgebärdensprache gelernt hat. Wer heute taub geboren wird in Kfar Qasim, lernt meist nur noch die israelische Gebärdensprache. Und viele junge Menschen ziehen in andere Städte. So wie Meyad. Sie hat einen deutschen Taubstummen getroffen, die beiden wollen demnächst heiraten und dann nach Berlin ziehen. Die alten Frauen unterhalten sich über ihre Pläne und plötzlich machen sie alle den Hitlergruß. Es ist das Zeichen für Deutschland in der Gebärdensprache von Kfar Qasim.

Der Hitlergruß sei häufig das Zeichen für Deutschland, sagt Annelies Kusters vom Max-Planck-Institut für die Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen. Es ist eine der Eigenheiten der Gebärdensprache, dass sie, um verständlich zu sein, häufig das Klischeehafte betont. In Israel war das Zeichen für Deutschland lange ein Hakenkreuz, geformt von zwei angewinkelten Zeigefingern. Heute ist es ein gereckter Zeigefinger, der an die Stirn gehalten wird: die preußische Pickelhaube.

"Das ist eine Sache, wo Gebärdensprachen sich von gesprochener Sprache unterscheiden: Es ist schwer, politisch korrekt zu sein, wenn man Namen zeigen muss." Das gilt auch für Personen: Für Angela Merkel stehen in der deutschen Gebärdensprache die Hände, die zur Raute geformt sind. "Man beschreibt, was man sieht", sagt Kusters. "Vielleicht sind taube Menschen, deswegen ein bisschen direkter."

Sprachen prägen einen, sagt auch Meyad Sarsour. Dass ihre Dorfgebärdensprache langsam verschwinde, mache sie traurig. "Aber ich arbeite daran, ein Wörterbuch zu machen mit allen Gebärden unserer Sprache." Sie werde Kfar Qasim zwar bald verlassen, sagt Meyad. "Aber die Sprache werde ich mitnehmen."

Der Autor ist ein Stipendiat der Masterclass "Zukunft des Wissenschaftsjournalismus" der Robert Bosch Stiftung und des Reporter-Forums.

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