Leibniz' Briefe:"Wie Facebook"

Der Historiker Michael Kempe über die Korrespondenz von Leibniz, der in seinem Leben 200 000 Seiten Papier beschrieb.

Interview von K. Zinkant

SZ: Herr Kempe, Leibniz hat in seinem Leben rund 15 000 Briefe ausgetauscht. Von keinem seiner Zeitgenossen gibt es eine vergleichbare Korrespondenz. Wie kann jemand so viel zu Papier bringen?

Michael Kempe: Leibniz hat eigentlich ständig geschrieben. Er war eine Nachteule, hat im Bett oft wach gelegen und alles, was ihm durch den Kopf gegangen ist, am nächsten Tag dann versucht aufzuschreiben. Diese Schreibwut betrifft auch die Briefe. Deren Zahl müssen wir inzwischen sogar nach oben korrigieren, es sind wahrscheinlich um die 20 000. Leibniz hat sich mit 1300 Menschen ausgetauscht. Insgesamt gibt es 200 000 Seiten mit Aufzeichnungen von ihm. Bis das alles vollständig ediert ist, wird es nach derzeitiger Planung bis zum Jahr 2055 dauern.

Die Menschen, die mit Leibniz korrespondierten, waren Mathematiker, Jesuitenpater und Kurfürstinnen wie Sophie. Warum wollten so viele verschiedene Menschen mit Leibniz reden?

Er war ausgesprochen kommunikativ und ein sehr geschätzter Gesprächspartner. Er wusste viel, vermochte davon abgesehen aber auch hervorragend zu plaudern und hatte offenbar die Gabe, Streitigkeiten zu schlichten. Und Streit gab es gerade unter Gelehrten viel, der heftige Disput war nahezu ein Signum der Identifikation für die damaligen Philosophen. Leibniz konnte in diesen Auseinandersetzungen sehr diplomatisch vermitteln.

Wofür brauchte Leibniz den Kontakt zu all den unterschiedlichen Persönlichkeiten?

Er hat dieses Netzwerk für alles genutzt, es war für ihn wie Facebook - nur auf Papier. Er hat in seinen Briefen gedacht, er hat mit ihrer Hilfe Informationen eingeholt, Literatur organisiert. Später betrieb er viel Politik über sein Netzwerk. Eines seiner größten Projekte war ja die Idee eines zivilisatorischen Fortschritts durch philosophische Zirkel und wissenschaftliche Akademien in ganz Europa. Die heutige Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften wurde von ihm gegründet, er hat die Bildung solcher Kreise bis hin nach Russland vorangetrieben. Und er hat die Korrespondenz als Testfeld für Hypothesen verwendet. Seine Monadentheorie etwa. Diese gewagte Idee einer einfachen, unteilbaren, unzerstörbaren Substanz, die Geist und Materie verbindet, die wollte er nicht ungeprüft in die Welt hinausposaunen. Also hat er dem Mathematiker Guillaume de l'Hospital und dem sizilianischen Gelehrten Michelangelo Fardella davon geschrieben. Die Briefe dienten ihm als Testballons.

Und was schrieb Leibniz der Kurfürstin Sophie und ihrer Tochter Sophie Charlotte? Frauen spielten in der Gelehrtenszene doch damals sicher keine große Rolle.

Oh, die Frauen bei Hofe waren sehr gebildet und philosophisch interessiert. Sie hatten ja auch die Zeit dafür. Sophie und ihre Tochter waren noch einmal besonders, sehr wissbegierig und kritisch. Trotzdem unterscheiden sich die Korrespondenzen mit ihnen, es geht darin auch um Hoftratsch und um organisatorische Dinge. Bücher waren damals keine Massenware, es gab oft nur wenige Exemplare eines Werks, und die musste sich Leibniz über seine Kontakte beschaffen. Ähnliches gilt für Personen, die Leibniz kennenlernen wollte oder über die er Informationen brauchte.

Was lehrt uns die Korrespondenz über Leibniz als Person?

Leibniz hat es selbst gesagt: Vom Gedruckten her kann man ihn nicht ausreichend kennen. Wenn man aber diese Briefe liest, sieht man Leibniz beim Denken zu. Er hat sehr dialogisch gedacht, seinen Ideen freien Lauf gelassen. Es steckt viel in den Korrespondenzen, was man von Leibniz so nicht erwartet. Er galt ja als strenger Pazifist, aber wir wissen jetzt, dass Leibniz sich sehr für Waffentechnik und Festungsbau interessiert hat. Über Schießpulver und Feuerwerk hat er auch mit dem in China lebenden Jesuitenpater Grimaldi kommuniziert. Und nicht zuletzt lernt man den nüchternen Mathematiker auch als emotionale Natur kennen. Nicht unmittelbar, denn anders als zu Zeiten von Goethe waren Briefe damals zwar nicht zuerst ein Mittel, um Seelenzustände auszudrücken. Aber Leibniz hat durchaus von sich berichtet, dass er wütend werden könne. Er war mit Sicherheit ein Mensch mit Gefühlen.

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